Wie reagiert das Gehirn auf Unter- und Überzucker?
Doch was genau während einer Unterzuckerung im Gehirn passiert, ist längst nicht erschöpfend untersucht. Ähnlich ausbaufähig präsentiert sich der Forschungsstand in Bezug auf Kurz- und Langzeiteffekte von Hyperglykämien auf kognitive Funktionen.
Für Dr. Pratik Choudhary King‘s College Hospital, London, gleicht das Streben nach stabilen Glukosewerten ohne nennenswerte Schwankungen auch einem Balanceakt zwischen den akuten Beeinträchtigungen des Gehirns durch Hypoglykämien und den langfristigen Schäden, die Hyperglykämien anrichten können. Beim ATTD-Kongress konzentrierte er sich vorrangig auf die kognitiven Folgen akuter Hypoglykämien.
Clamp-Tests an stoffwechselgesunden Probanden und Menschen mit Typ-1-Diabetes hätten gezeigt, dass akute Unterzuckerungen die Reaktionsfähigkeit um etwa 15 % verlängern. „Sogar wenn der Blutzucker sich wieder stabilisiert hat, braucht das Gehirn etwa 45 Minuten, bis es seine normale Funktion zurückerlangt hat“, erklärte Dr. Choudhary. „Genau deshalb empfehlen die britischen Leitlinien ja, dass man erst 45 Minuten nach einer akuten Hypoglykämie wieder Autofahren sollte.“
Leichte Hypoglykämien scheinen eher unbedenklich
Immerhin konnte Dr. Choudhary alle diejenigen beruhigen, die im Alltag immer wieder einmal leichte hypoglykämische Episoden erleben: „Milde Unterzuckerungen scheinen keinen nachhaltigen Effekt auf das Gehirn zu haben.“ Anders sieht die Situation bei Patienten aus, die häufig schwere Unterzuckerungen oder auch Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörungen haben.
Diese wiesen sogar generell längere Reaktionszeiten auf im Vergleich zu Patienten, die nicht zu Hypoglykämien neigen, berichtete Dr. Choudhary mit Blick auf eine aktuelle Arbeit von Bortolotti et al.¹ Die genauen Zusammenhänge seien allerdings noch nicht klar: „Sind die gehäuften Unterzuckerungen für die kognitiven Defizite verantwortlich – oder führen umgekehrt mikrovaskuläre Schäden im Gehirn eher zu schweren Hypoglykämien?“
Eine ähnliche Frage – wer war zuerst da, die Henne oder das Ei? – kann man bezüglich des Zusammenhangs zwischen wiederkehrenden schweren Hypoglykämien und dem Auftreten von Demenzerkrankungen bei älteren Menschen mit Typ-2-Diabetes stellen, wie Dr. Choudhary mit Verweis auf eine Arbeit von Yaffe et al.² berichtete.
Hyperglykämien sind nicht das kleinere Übel
Hier zeige sich ein wechselseitiger Zusammenhang: Wer immer wieder schweren Unterzuckerungen ausgesetzt ist, hat demnach ein doppelt so hohes Risiko, im Alter eine Demenzerkrankung zu entwickeln. Gleichzeitig neigen ältere Menschen mit Typ-2-Diabetes, die eine Demenzerkrankung haben, auch eher zu schweren Hypoglykämien als Patienten ohne Demenz. Letztere Beobachtung lässt sich vermutlich auf das infolge der Demenz verschlechterte eigenständige Diabetesmanagement zurückführen.
Aus Angst vor Hypoglykämien und ihren möglichen Auswirkungen auf die kognitive Funktion tendierten viele Menschen mit Diabetes dazu, erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf zu nehmen. „Doch häufige und langanhaltende Hyperglykämien richten noch viel mehr Schaden im Gehirn an“, warnte Dr. Choudhary.
Dies bestätigte auch Dr. Jasna Šuput Omladič, die an derselben Klinik wie ATTD-Kongresspräsident Professor Dr. Tadej Battelino an der Universität von Ljubljana forscht. Sie präsentierte die Ergebnisse einer Studie an 20 Jugendlichen mit Typ-1-Diabetes, in welcher mithilfe von MRT-Untersuchungen der Einfluss akuter Hyperglykämie auf das visuelle räumliche Arbeitsgedächtnis untersucht wurde.
Man wisse zwar bereits, dass akute Hyperglykämien kognitive Fähigkeiten beeinträchtigen. „Aber liegt es am oxidativen Stress oder sind es entzündliche Reaktionen? Welches sind die am meisten betroffenen Hirnregionen?“ fasste sie die Fragestellungen zusammen.
Die Probanden wurden in zwei Gruppen aufgeteilt und mussten zunächst mit Blutzuckerwerten im Normbereich eine Reihe standardisierter verhaltenspsychologischer Tests absolvieren. Hierbei ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den einzelnen Teilnehmern. Die Tests wurden wiederholt, nachdem die eine Gruppe per Clamp in einen hyperglykämischen Zustand versetzt wurde, während die andere Gruppe weiterhin normale Blutzuckerwerte aufwies.
Strukturelle Veränderungen und erhöhte Entzündungswerte
Die Verhaltenstests während der akuten Hyperglykämien zeigten demnach, dass die Reaktionsfähigkeit im parietalen Kortex deutlich eingeschränkt war, „insbesondere wenn sich die Probanden mehrere Positionen merken sollten“, wie Dr. Omladič erklärte. Diese Ergebnisse wurden durch die MRT-Scans bestätigt, die strukturelle Veränderungen in eben diesen Gehirnregionen zeigten. Zudem zeigten sich nach einer akuten Hyperglykämie erhöhte Interleukin-6-Werte, was für eine entzündliche Reaktion infolge der hohen Glukosewerte spreche.
Quellen:
12th International Conference on Advanced Technologies & Treatments in Diabetes (ATTD)
¹ Bortolotti et al. J Diabetes Complications 2018
² Yaffe et al. JAMA Intern Med 2013
Langzeitwirkungen auf das kindliche Gehirn
Auch langfristig wirken sich erhöhte Blutzuckerwerte auf das Gehirn aus, wie der Professor Dr. Stuart Weinzimmer, Yale School of Medicine, New Haven, berichtete. Er präsentierte erste Daten aus dem DIRECTNET-Projekt, einer Langzeitstudie, in der kognitive und Hirnfunktionen bei Kindern untersucht werden, bei denen bereits in sehr jungen Jahren ein Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde.
Insbesondere während des Wachstums vor Abschluss des 2. Lebensjahrs benötige das kindliche Gehirn große Mengen an Glukose. „In diesem Alter reagiert es besonders empfindlich auf hohe Glukosevariabilität, entsprechend vulnerabel ist es bei sehr frühem Auftreten eines Typ-1-Diabetes“, erklärte Prof. Weinzimmer. MRT-Untersuchungen im Rahmen des Projekts hätten gezeigt, dass bei kleinen Kindern mit Typ-1-Diabetes über einen Zeitraum von 18 Monaten die graue und weiße Hirnsubstanz deutlich langsamer wächst als bei gleichaltrigen stoffwechselgesunden Kindern.
Dies resultiere zwar nicht in verminderten kognitiven Fähigkeiten: „Wir wissen ja, dass Kinder mit Typ-1-Diabetes keine schlechteren Schulleistungen erbringen als andere Kinder.“ Allerdings zeige die Bildgebung, dass das Gehirn das langsamere Wachstum offenbar mit hyperkonnektiver Hirnaktivität kompensiere. Die Studie soll nun fortgesetzt werden, damit man die beteiligten Kinder in ihrer Entwicklung auch durch die Pubertät weiter beobachten kann.