Wenn’s „da unten“ nicht mehr so klappt
Glatte Körper, multiple Orgasmen, immerwährende Standfestigkeit: Die Bilder, die viele Menschen von Sex verinnerlicht haben, sind viel zu perfekt. Höchste Zeit für die ganze Wahrheit.
Von Gabriele Kuhn*
Wir leben in einer „Höher-schneller-weiter“-Welt. Performance ist alles, man „optimiert“ seine Leistungen. Auch beim Sex. Für den KURIER habe ich zu diesem Thema schon vor Jahren eine Kolumne geschrieben, mit dem Titel „Hör mal, wer da hämmert“. Von ultimativem Sex war in diesem Text die Rede, und damit verbundenen Vorstellungen von High-Speed-Libido und Presslufthammer-Erektionen. Daran hat sich nichts geändert, im Gegenteil: Auch heute, fünf Jahre später, werden nach wie vor Idealvorstellungen bemüht, wenn von Sex geredet wird – nur kein Ausrutscher, Abrutscher, nur kein Versagen.
Angefeuert werden solche Vorstellungen durch die Porno-Industrie, die uns per Klick mit Bildern perfekter Geschlechtsteile und multiplen Orgasmen versorgt. So entsteht ein völlig verzerrtes Bild, in dem der „Fehler“ oder „Mangel“ keinen Platz findet. Doch in Wirklichkeit ist genau das die Norm. Niemand von uns ist makellos oder funktioniert perfekt. Die Lust, der Akt – mal so, mal so. Und manchmal auch gar nicht. Das anzuerkennen und sich damit auszusöhnen, entlastet ungemein. Das gilt besonders für Menschen mit einer chronischen Erkrankung.
Bei Diabetikern treten sexuelle Funktionsstörungen häufiger auf als bei Personen ohne diese Erkrankung. Bei zirka 50 Prozent aller männlichen Diabetiker kommt es immer wieder zu Erektions-, Orgasmus- oder Ejakulationsstörungen. Frauen sind ebenfalls betroffen – etwa ein Drittel der Diabetikerinnen hat im Laufe des Lebens Probleme mit der Libido oder Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Die Ursachen dafür sind unterschiedlich – Hormonstörungen, Probleme mit der Durchblutung oder diabetesbedingte Nervenschädigungen. Dazu kommen alltägliche Probleme, wie wir sie alle haben: Stress und Druck am Arbeitsplatz, mit den Kindern, in der Partnerschaft.
Die gute Nachricht ist allerdings, dass es Antworten und Lösungen gibt – von medizinischer Seite genauso wie von der psychologischen. Allgemeinmediziner, Diabetologen und Urologen sind dafür gute Ansprechpartner, weil die Ursachen für die Probleme zu einem hohen Prozentsatz körperlicher Natur sind. Hier gibt es viele verschiedene Therapiemöglichkeiten. Wenn dazu auch noch psychischer Leidensdruck kommt und auf diese Weise womöglich ein Teufelskreislauf entsteht, hilft der Besuch beim Psychotherapeuten oder Psychologen.
Voraussetzung dafür ist allerdings, den vermeintlichen „Fehler“ nicht verschämt zu verschweigen und still zu leiden, sondern darüber offen zu sprechen. Man sollte sein „Problem“ keinesfalls als gegeben und unveränderlich hinnehmen, sondern etwas tun. Für sich, nicht „gegen“ etwas. Das ist sowieso der springende Punkt: Erst das Bewusstsein FÜR etwas, bringt Licht in eine Sache. Wer nicht hinschaut, wird nichts sehen – und kann auch nichts tun. Sexuelle Dysfunktion gilt immer noch als Tabu: Darüber reden wir lieber nicht. Ein Makel – wie peinlich. Passt gar nicht zum modernen Bild des optimierten Homo sapiens. So schade. Weil wir als Mensch anders gemeint sind – verletzlich und vor allem echt, authentisch. In unserem ganzen Facettenreichtum – mit allem, was wir sind und nicht sind, können und nicht können. Mit allem, was dazugehört – und eben nicht.
In diesen Tagen erleben wir, mehr denn je, die Fragilität unseres Seins. Vieles, was noch vor einiger Zeit selbstverständlich schien, ist es auf einmal nicht mehr. Die Welt hat einen Riss bekommen – und das, was superwichtig schien, beginnt sich auf einmal zu relativieren. Verzerrten Idealbildern nachzujagen, ergibt weniger Sinn denn je. Auf sich zu hören, seinem Körper und seiner „Seele“ zu lauschen, und was die Beiden zu sagen haben – das zählt jetzt wirklich. Fürs Leben sowieso – aber auch beim Sex.
*Gabriele Kuhn ist seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressortleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin der Lebensart. Seit 2017 Autorin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Und damit's nicht fad wird, schreibt sie seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox - Szenen einer Redaktionsehe" gemeinsam mit ihrem Mann Michael Hufnagl, ebenfalls Journalist. Außerdem: Autorin dreier Bücher.
Für Diabetes Austria schreibt sie Kolumnen rund ums Thema Liebe, Sex und Diabetes.