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Virologe Drosten und mehr als 100 Ärzte warnen vor Lügen-Pandemie

Desinfektionsmittel trinken, Symptome schönreden – Corona-Fake-News verbreiten sich rasant. In einem Offenen Brief fordern Ärzte Korrekturen von Facebook und Co.

Welche Folgen Fake News haben können, erlebt Duncan Maru nahezu täglich. Der Epidemiologe hat am Mount Sinai Krankenhaus im New Yorker Stadtteil Queens ohnehin viel zu tun. Doch kommen nun auch Patienten, die Desinfektionsmittel trinken, „um sich zu ,heilen’“ oder die glauben, die Krise sei „ein einziger Schwindel“ und sich deshalb „nicht an die Abstandsregeln halten oder sich weigern, die Hilfe in Anspruch zu nehmen, die sie eigentlich brauchen“, berichtet er. 

Ärzte wie Maru kämpfen deshalb derzeit nicht nur gegen die Corona-Pandemie, sondern auch gegen eine weltweite „Infodemie“, die sich über soziale Netzwerke laufend schnell verbreitet, mit tödlichen Folgen – deshalb schlagen die Mediziner nun Alarm.

In einem Offenen Brief, der heute in der US-Zeitung „New York Times“ als ganzseitige Anzeige erscheinen soll und Tagesspiegel Background vorab vorlag, fordern sie Tech-Giganten wie Facebook, Twitter und Google dazu auf, „die Lügen, Verdrehungen und Fantasien, die uns alle bedrohen“ nicht „weiter anzufachen“.

Mehr als 100 Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und –pfleger sowie Gesundheitsexpertinnen und -experten aus der ganzen Welt gehören zu den Erstunterzeichnern. Darunter sind auch die vier deutschen Ärzte Christian Drosten (Chefvirologe an der Charité Berlin), Melanie Brinkmann (Institut für Genetik an der TU Braunschweig), Jörg Ellinger (Oberarzt am Universitätsklinikum Bonn) und Christopher Rommel (Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Johanniter-Krankenhaus Treuenbrietzen).

„Falsche oder wissenschaftlich noch nicht eingeordnete Informationen verbreiten sich oft wie ein Lauffeuer“, sie könnten „unnötig Angst verbreiten und Schäden anrichten“, warnt Melanie Brinkmann. Beispiele dafür seien Berichte über das Auftreten aggressiverer Virusmutationen oder angeblich wirksame Heilmittel.

Ihr Kollege Rajeev Fernando, Spezialist für Infektionskrankheiten am Stony Brook Southampton Hospital, kritisiert, dass Fehlinformation dazu geführt hätten, dass „viele Menschen lange nicht ins Krankenhaus gekommen sind“, Todesfälle hätten vermieden werden können. „In einer Krise wie dieser ist der Kampf gegen medizinische Fehlinformationen im Internet genauso wichtig wie Ausgangsbeschränkungen und Abstand halten“, betont Fernando, der sich wie Maru und Brinkmann in einem Schreiben äußert, das begleitend zum Brief veröffentlicht wird.

Doch die Unterzeichner des Briefes betonen, dass die „Flutwelle an falschen und irreführenden Inhalten“ über das Coronavirus „kein isolierter Ausbruch von Desinformation“ sei – sondern Teil „eines globalen Problems“. Auf Facebook würden etwa Berichte geteilt, wonach Chlordioxid Menschen helfe, die an Autismus und Krebs leiden, oder, dass Millionen von Amerikanern durch die Polio-Spritze ein „Krebsvirus“ verabreicht worden sei, oder, dass ADHS von den großen Pharmakonzernen erfunden wurde.

Krankheiten leben „dank Impfgegner-Propaganda wieder auf“

Durch die Arbeit in Krankenhäusern und Gesundheitsämtern auf der ganzen Welt würden sie sich „nur zu gut mit den tatsächlichen Auswirkungen dieser Infodemie“ auskennen, schreiben die Unterzeichner: „Wir sind diejenigen, die Kleinkinder mit Masern stationär behandeln – eine vollkommen vermeidbare Krankheit, die in Ländern wie den USA bereits als ausgerottet galt, jetzt aber vor allem dank Impfgegner-Propaganda wieder auflebt“.

Fehlinformationen würden die Moral „eines ohnehin schon unter großem Druck stehenden Berufsstandes“ verschlechtern, während die finanziellen Kosten der Behandlung „das ohnehin übermäßig beanspruchte Budgets noch mehr belasten“ würden.

Zwar versuchten die Tech-Firmen zu reagieren, indem sie bestimmte Inhalte – wenn sie gemeldet würden – löschten und der Weltgesundheitsorganisation ermöglichten, kostenlose Anzeigen zu schalten: „Diese Anstrengungen sind aber bei weitem nicht genug“, schreiben die Unterzeichner. Denn die Plattformen würden „sowohl die Verbreitung von Ideen erleichtern als auch davon profitieren“.

Deshalb seien sie „in einer unvergleichlichen Machtposition“ und dafür verantwortlich, „der tödlichen Verbreitung von Fehlinformationen entgegenzuwirken, um zu verhindern, dass soziale Medien unsere Gesellschaft kränker machen“. Es gehe nun darum, „Leben zu retten und das Vertrauen in die wissenschaftlich fundierte Gesundheitsversorgung wiederherzustellen.“

Zwei konkrete Forderungen werden in dem Brief an die Tech-Unternehmen genannt:

  • Richtigstellungen zu den Gesundheits-Fehlinformationen veröffentlichen: Jede Person, die auf einer Plattform mit Gesundheits-Fehlinformationen in Berührung gekommen sei, sollte demnach gewarnt und benachrichtigt, „eine gut konzipierte und unabhängig überprüfte Korrektur angezeigt“ werden.
  • „Algorithmen entgiften“: Gefährliche Lügen sowie diejenigen Seiten und Gruppen, die sie verbreiten, sollten demnach in den Benutzer-Feeds herab- und nicht heraufgestuft werden. Schädliche Fehlinformationen sowie Seiten und Kanäle, die „Wiederholungstätern“ gehörten, sollten aus den inhaltsempfehlenden Algorithmen herausgenommen werden.

Zwar loben die Unterzeichner, dass Plattformen wie Facebook bereits dazu übergegangen sind, auf Fakten geprüfte Fehlinformationen zu kennzeichnen (Tagesspiegel Background berichtete). Auch Google-Tochter Youtube hat angekündigt, den Einsatz von Panels zur Überprüfung von Fakten auf die USA auszuweiten. Twitter erklärte Ende April, dass die Entfernung von Inhalten Vorrang habe, wenn sie zu Handlungen aufrufen würden, die möglicherweise Schaden anrichten könnten.

Doch gehe dieses Verfahren den Unterzeichnern des Briefes offenbar nicht weit genug. Denn Millionen von Menschen könnten einen Beitrag sehen, bevor er geprüft und gekennzeichnet werde. Nutzern sollten deshalb auch rückwirkende Richtigstellungen mitgeteilt werden.

Facebook teilte als Reaktion auf den Brief mit, „aggressiv gegen Fehlinformationen über Covid-19 vorzugehen“, „Millionen von Fehlinformationen“ seien mit Warnhinweisen versehen und „Tausende von Inhalten entfernt“ worden, „die zu unmittelbarem Schaden führen könnten". Das Unternehmen engagiere sich „voll und ganz für die Unterstützung der Beschäftigten im Gesundheitswesen in dieser Zeit“.

Quelle: Tagesspiegel.de