Univ. Prof. Dr. Martin BORKENSTEIN - Der Arzt der süßen Kinder
Von Wolfgang Höllrigl
Zyniker, sagt man, sind enttäuschte Idealisten. Zyniker sagen Sätze wie: „Schokolade ist gut gegen Zähne.“ Oder: „Soviel, wie ich vergessen möchte, kann ich mir gar nicht merken.“ Und: „Das Leben hat nicht nur Schattenseiten, sondern auch Nachteile. Einmal geht’s abwärts, dann wieder runter.“
Auf den ersten Blick hätte der Kinderarzt Univ.-Prof. Dr. Martin Borkenstein, 56, gute Gründe für Zynismus. Denn seit 30 Jahren kämpft der Leiter der Pädiatrischen Endokrinologie und Diabetologie an der Uniklinik Graz mit aller Kraft als Arzt und Forscher gegen juvenilen Diabetes (Typ 1) an. Aber bis heute ist die Krankheit nicht heilbar – und selbst Vorbeugung unmöglich. Denn gegen die erbliche Veranlagung zur Zuckerkrankheit können Mediziner nichts tun, gegen den Auslöser vielleicht schon. „Aber dazu müssten wir wissen, was der Auslöser ist“, erklärt der Professor: „Wüsste ich’s, würde ich wohl jetzt nicht mit Ihnen sprechen, sondern mit dem Nobelpreiskomitee.“
Es ist der einzige Anflug von Sarkasmus, den sich der Arzt von Rang in einem langen Interview erlaubt. In jedem anderen Moment vermittelt er den Eindruck, der ihn in Graz zur Legende gemacht hat. Professor Borkenstein ist ein Mann, vor dem andere den Hut ziehen. Eine sympathisch menschelnde Kapazität. Eine rare Melange aus scharfem Geist und temperierter Seele.
Und dank der schafft der Spitzenmediziner schon ein Berufsleben lang einen verblüffenden Scherenschritt, ohne zu stolpern: Einerseits wissenschaftliche Forschungsarbeit (vor allem über die Spätfolgen von Diabetes) und eine fachliche Performance seiner Abteilung, die in ganz Österreich als beispielhaft gilt. Andrerseits Visiten an Kinderbetten wie Bruno, der Bär, der als Trost sein Lebensmotto verrät: „Hab Sonne im Herzen und Schafe im Bauch. Denn dann bist du glücklich – und satt bist du auch.“
Der Professor erzählt, mit der Kinderheilkunde habe er schon während des Studiums kokettiert. Daraus wurde eine Liebe fürs Leben. Gleichzeitig interessierten ihn „in der Medizin auch die Bereiche Stoffwechsel und hormonelle Störungen“. So kam eines zum anderen. Und aus beidem wurde ein Top-Diabetologe in der Pädiatrie. Zur Ausnahmeerscheinung in der Heilkunde wurde der Steirer aber nicht nur durch sein Können als Arzt, sondern auch durch ein besonderes Feuer: Borkenstein hat sich eine Karriere lang seine Idealismus bewahrt. Seine Zuwendung gilt dem Kranksein und nicht Krankenscheinen.
Bester Beleg dafür: Seit 30 Jahren veranstaltet Professor Borkenstein Feriencamps für diabetische Youngsters. Jeden Sommer wieder nimmt er sich zwei bis drei Wochen Zeit, um süßen Kindern ihr Schicksal zu erleichtern: „Die sollen Ferien und Spaß haben. Gleichzeitig aber sehen sie, dass auch andere die Krankheit haben. Und jeden Abend bringen wir ihnen Dinge bei, die sie in ihrer besonderen Lebenssituation brauchen“ (Ernährungsberatung, Blutzucker-Kontrolle, Diabetes-Knowhow). Insgesamt mehr als zwei Jahre seines Lebens hat Borkenstein schon in solchen Camps verbracht. Urlaub war’s nie, weil er für das gesamte Geschehen vor Ort die Verantwortung trägt. Was mühsam wird, wenn etwa ein Bub wegen einer Hypoglykämie vom Rad fällt. Seit er mit Diabetes-Kindern Fußball spielte, hat der Mediziner kein Kreuzband und Seitenband mehr. Aber er hat sein Engagement nie bereut, „denn es kommt viel zurück und man lebt irgendwie mit“.
Die Freude daran ist typisch für den Kliniker. Denn niemals seit seiner Promotion hat sich Doktor Borkenstein in einen weißen Mantel zurückgezogen. Immer lebte der Kinderarzt und Diabetologe mit seinen Patienten mit. Entsprechend kräftig wird seine Stimme und ein wenig stolz die Körperhaltung, wenn er vom Fortschritt der Diabetologie erzählt, seitdem er selbst am Räderwerk mitdreht. 20 Minuten Vortrag im Stenogramm:
Stichwort Insulin: „Anfangs gab es nur ungereinigte tierische Insuline, dann gereinigte, also Schweineinsulin. Der nächste große Sprung war die gentechnologische Herstellung von Humaninsulin, das seither in unbegrenzten Mengen zur Verfügung steht. Und der letzte Schritt war die Entwicklung von Insulin-Analoga, die schnell oder langsam wirken. Seither können diabetische Kinder unbeschwert essen, ohne auf die Größe der Pizza achten zu müssen. Und von den lange wirkenden Analoga erhoffen wir uns, dass es nicht mehr zu Unterzuckerungen (Hypoglykämien) kommt.
Stichwort Applikation: „Früher wurden die Spritzen noch ausgekocht, unglaublich aus heutiger Sicht. Dann wurden auch die Nadeln immer dünner und besser. Das ist natürlich besonders für kleine Patienten ein Vorteil, weil die jetzt kaum noch Angst vorm Stechen haben.“
Stichwort Selbstkontrolle: „Als ich begonnen habe, gab es noch Teststreifen für den Harn. Eine exakte Blutzuckermessung war Laborsache. Heute ist die quantitative Bestimmung extrem schnell und extrem genau möglich. Man braucht sich dafür auch nicht mehr die Haut aufzuschneiden wie früher mit den Lanzetten, ein kleiner Pieks in den Finger genügt. Und ein Überblick über die Mittelwerte ermöglicht es, die Patienten gut einzustellen, was wichtig für die Perspektive ist: Spätfolgen (Schäden an den Gefäßen, Nieren, Augen) können nur vermieden oder zumindest verzögert werden, wenn die Stoffwechselkontrolle gelingt.“
Selbstkontrolle und Selbstverantwortung setzen Wissen voraus. Und beim Stichwort Schulung ist der Professor endgültig Feuer und Flamme, denn da gibt er in Österreich an seiner Abteilung mit ständig rund 200 kleinen Patienten die Lattenhöhe vor: „Wir machen bei so gut wie jeder Kontrolle eine akute Schulung, weil es immer Fragen gibt wie zum Beispiel, was einer tun muss, wenn er Tennis spielen will.“
Prinzipiell meint der Experte, dass Kinder Anspruch haben auf bestmögliche Betreuung, die den Gemeindearzt von Storchenbach an der Umleitung allerdings sehr wahrscheinlich überfordert. Denn „man braucht Spezialisten, die sich erstens auskennen, zweitens genügend Patienten haben, um im Training zu bleiben, drittens Möglichkeiten zur Fortbildung haben und viertens über optimale Heilmittel und Fachwissen verfügen.“
„Betreuung ist Teamwork“, postuliert Borkenstein. Und der Chef sorgt seit Jahren dafür, dass die Besetzung seiner Abteilung wunschlos macht. Zum Team gehören Ärzte/innen, Diabetes-Schwestern, Diätassistenten/innen, ein Psychologe (hilft bei Problemen in der Pubertät), ein Sozialarbeiter (hilft bei der Stellensuche und Troubles am Arbeitsplatz) und Fachärzte, die Spätkomplikationen vorbeugen. Wichtig ist dem Professor auch „eine möglichst ambulante Betreuung. Wir müssen für unsere Patienten immer erreichbar sein“. Deshalb hat er als Draufgabe einen Telefon-Service eingerichtet, der 24 Stunden besetzt ist: „Da geht es dann oft auch um Fragen rund um die Schule, um den Führerschein oder um Auslandsreisen.“
Das Angebot geht über ärztliche Pflichterfüllung hinaus. Es hat wohl mit einer Berufsauffassung zu tun, die nicht weit weg liegt von Berufung. Und mit einer Botschaft, auf die der Professor aus Graz Wert legt: „Diabetische Kinder sind keine Hascherln. Sie sind nicht behindert, sondern können und dürfen alles tun, was andere Kinder auch machen. Voraussetzung ist nur, dass sie ein paar einfache Regeln beachten, die wir ihnen erklären.“
Die Betreuung ist so gut, dass manche Patienten noch als Erwachsene um Rat anklopfen, obwohl die Kinder- und Jugendklinik formell nur bis zum 19. Lebensjahr zuständig ist. Sie haben Professor Martin Borkenstein für immer ins Herz geschlossen. Es ist die höchste Auszeichnung, die ein Arzt erreichen kann.