Univ. Prof. Dr. Hermann Toplak - Essen bis der Doktor kommt
Von Wolfgang Höllrigl
Als Patrick Deuel ins Krankenhaus eingeliefert werden sollte, mussten Handwerker erst einmal ein Stück aus der Mauer seines Hauses in Valentine (US-Staat Nebraska) herausbrechen. Der 486 Kilo schwere Mann passte nicht mehr durch die Tür. Ein mit extragroßen Tragen und Rampen ausgerüsteter Rettungswagen brachte den 42-jährigen in eine Spezialklinik in Sioux Falls, South Dakota.
Um das Gewicht des 1,80 Meter großen Patienten zu bestimmen, hievten ihn mehrere Sanitäter auf eine Lkw-Waage. Eine normale Personenwaage hätte die Last weder anzeigen noch aushalten können. Im Spital wurden zwei Betten für den dicken Riesen zusammengebunden, ein Team von Ärzten und Schwestern musste ihn auf der Matratze umdrehen.
Das war im Juni vergangenen Jahres. Deuel hatte sich beinahe zu Tode gefuttert. „Als Patrick hier ankam, lag er im Sterben“, berichtet sein Arzt: Deuel litt an Herzbeschwerden, Atemnot, Diabetes und schwerer Arthrose – alles Folgen seines extremen Übergewichts, das er sich angemampft hatte, vorzugsweise mit Pizzen und fetter Wurst.
Seit sieben Jahren hatte der ehemalige Restaurantmanager sein Haus nicht mehr verlassen können. Ehefrau Ruth, selbst ein Kaliber von gut 120 Kilo, musste ihn rund um die Uhr pflegen.
Mit Hilfe einer strengen Diät – 1200 Kilokalorien pro Tag – und nach einer operativen Magenverkleinerung verlor Deuel binnen eines knappen Jahres die Hälfte seines Gewichts. Der einstige Koloss wiegt aber immer noch stattliche 240 Kilo.
Vor seiner brachialen Abspeck-Aktion war Patrick Deuel einer der schwersten Männer in einem Land, in dem es von Dicken nur so wimmelt. Zwei Drittel der gut 290 Millionen US-Bürger gelten als übergewichtig, die Hälfte davon gar als fettleibig. Jeder dritte Amerikaner trägt demnach mindestens 20 Prozent Gewicht zu viel mit sich herum. „Das große Fressen“, in den siebziger Jahren Titel einer cineastischen Gesellschaftssatire, ist zum realen Albtraum geworden. Die Folgen sind im amerikanischen Alltag zu besichtigen:
Die Flugaufsichtsbehörde FAA schreibt seit Ende 2003 vor, das bei der Berechnung des Beladungsgewichts für jeden Fluggast zehn Kilo zusätzlich kalkuliert werden müssen. Ein paar Monate zuvor war eine mit fülligen Passagieren überladene Maschine abgestürzt. Airlines verlangen von Reisenden, deren Speckmassen über den 43 Zentimeter breiten Normsitz der Economy Class quellen, den Kauf eines zweiten Tickets. Kinosessel mussten in den letzten Jahren um 12 Zentimeter verbreitert werden. Und Sargtischler haben sich darauf spezialisiert, containerähnliche Kisten aus Stahlblech, so genannte Goliath Caskets, zu schweißen, die Schwertsgewichte über 300 Kilo aufnehmen können. Statt üblicher 61 Zentimeter sind die XXL-Erdmöbel bis zu 130 Zentimeter breit.
Die grassierende Fettleibigkeit ist nicht nur eine Frage der Ästhetik, sondern schlägt als Kostenfaktor auch in den Sozialbudgets zu Buche. Auf 117 Milliarden Dollar beziffert die US-Gesundheitsbehörde Centers of Desease and Prevention (CDC) die jährlichen Aufwendungen der Krankenversicherungen für die Folgen der Völlerei.
Amerika hat mit weitem Abstand den höchsten Anteil taillenloser, tonnenförmiger Fettleiber an der Bevölkerung. Aber der Rest der Welt holt gewaltig auf. Bauchumfänge und Speckpolster nehmen global derart zu, dass die Weltgesundheitsorganisation Alarm schlägt: Nach WHO-Schätzungen leben erstmals ebenso viele übergewichtige wie unterernährte Menschen auf der Erde: jeweils 1,2 Milliarden. Mindestens 300 Millionen, also fünf Prozent der Menschheit, sind nach WHO-Angaben so fett, dass sie medizinischer Behandlung bedürfen.
Auch auf heimischen Hüften sammeln sich Kilos in besorgniserregendem Ausmaß. Bereits jeder Zweite im Land ist übergewichtig – und selbst in der Oberliga der Dicken rücken die Österreicher bedenklich vor: elf Prozent, in Summe rund 900.000 Menschen, leiden an Adipositas (also an krankhaftem Übergewicht) und werden als fettsüchtig eingestuft. Die Folgen sind eine rasante Zunahme an Typ-2-Diabetes, an Fettstoffwechselerkrankungen, an Herz-Kreislauferkrankungen wie Herzinfarkt und Bluthockdruck. Entsprechend die Prognose von Gesundheitsexperten: „In einigen Jahren werden mehr Menschen an den Folgen von Adipositas sterben als an Krebs und Nikotin.“
In der Ambulanz für Diabetes und Stoffwechsel der Universitätsklinik Graz lehnt sich Univ.-Prof. Dr. Hermann Toplak zurück und nickt. Mit dem 46-jährigen Top-Internisten über Zuckerkrankheit zu sprechen ist wie ein Interview mit Dan Brown über den Da Vinci-Code: Der Mann weiß alles über das Thema, macht sich eigene Gedanken und versteht es, das Ergebnis spannend und pointiert zu präsentieren.
Der Unterhaltungsfaktor beginnt mit dem Doktor selbst, wenn er im Plauderton erzählt, er sei ein guter Sänger und habe nach der Matura auch kurz erwogen, Tenorsolist zu werden: „Aber dann dachte ich mir: lieber ein fünftklassiger Mediziner als ein zweitklassiger Tenor.“ Er wurde Europaklasse als Arzt. Und wegbereitend dafür könnte gewesen sein, was Toplak selbst so formuliert: „Eigentlich bin ich ein abstruser Mediziner, weil Kollegen in der Regel mit Physik, Chemie und Mathematik nichts anfangen können. Gerade das waren meine besten Fächer in der Schule. Und das Interesse daran habe ich nie verloren.“
Toplak wollte vom Start weg einen Nischenplatz in der Heilkunde finden. Also kokettierte er anfangs mit medizinischer Chemie, schärfte dann durch Laboranalysen seinen Blick für physiologische Zusammenhänge und erforschte schließlich an der renommierten Kinderklinik Bern angeborene Stoffwechselstörungen, bis er seinen Platz im Berufsleben fand: 1988 wechselte Toplak an die Diabetesambulanz der Uniklinik Graz, weil die Interne Abteilung dort von einem neuen Chef geleitet wurde, der auch nicht von gestern war. Der Primar ermunterte den strebsamen Kollegen, die Ambulanz zukunftsorientiert aufzumischen, sein Wissen über Lipidstoffwechsel einzubringen und Forschung aufzubauen.
Hermann Toplak nützte die Chance mit Bravour – und machte bald in der Fachwelt von sich reden: „Ich habe damals schon formuliert, dass der Typ-2-Diabetes im Wesentlichen eine Fettspeicherkrankheit ist und der erhöhte Blutzucker nur deren Sekundärsymptom. Am Anfang steht ein bauchbetontes Übergewicht, das später die Insulinresistenz und andere Faktoren des metabolischen Syndroms nach sich zieht.“
Vor 18 Jahren war diese These eine Steilvorlage für die Wissenschaft. Heute ist sie gesicherte Erkenntnis. Dass der junge Arzt aus der Steiermark damals richtig lag, war die Basis der Lebensleistung des heutigen Professors (habilitiert 1995). Denn als einer der ersten seines Fachs hat er mit Stereotypen gebrochen („Ein Mensch mit hohen Zuckerwerten galt als krank, einer mit hohen Blutfetten als gesund“) und physiologische Zusammenhänge aufgespürt. Und als einer der ersten verstand er Fettsucht als lebensgefährliche Erkrankung.
Der Mediziner im Rückblick: „Ich war 1992 zum ersten Mal auf einem Adipositas-Kongress, eine Veranstaltung in Holland mit 300 Teilnehmern. Ich war der einzige Österreicher.“1997 gründete Prof. Toplak gegen Widerstand die Adipositas-Gesellschaft in Österreich. 2001 veranstaltete er in Wien den europäischen Adipositas-Kongress – mit bereits 2500 Teilnehmern.
Der rasante Zuwachs bei Tagungen von Experten zeigt die Wucht des Problems: Schon der Sprung von Body Mass Indix 23 auf BMI 30 verachtfacht das Diabetesrisiko. 85 Prozent aller Fettsüchtigen (über BMI 35) werden irgendwann insulinresistent. Nicht zuletzt erhöht Adipositas auch das Krebsrisiko um 70 Prozent. Und die Einzelschicksale aller, die essen, bis der Doktor kommt, erschüttern in Summe das Gesundheitssystem.
Fachmann Toplak kennt alle Studien dazu: „Die Morbidität bei Übergewicht ist dreifach erhöht, fünf Mal so viele Männer und sieben Mal so viele Frauen werden pflegebedürftig. Sieht man die explodierenden Diabetes- und Adipositas-Zahlen, steigt auch die Wahrscheinlichkeit von Dialyse und Erblindung. Damit schlittern wir in ein immenses Versorgungsproblem hinein. Also versuche ich publik zu machen, dass wir rechtzeitig Schritte gegen Übergewicht setzen müssen, weil wir uns Unterlassungssünden später nicht mehr leisten können. Die Frage ist ja nicht nur, wie ich Diabetiker gut einstelle, sondern auch, wie ich erreiche, dass ich möglichst wenig Diabetiker habe.“
Zur guten Einstellung von Zuckerkranken hat der Spitzeninternist selber die beste: Wenn Toplak über Patienten spricht, verströmt er die behagliche Wärme eines Kachelofens und klingt, als würde er von seinen drei Kindern erzählen. Und wenn er aus der Schule plaudert, bemüht er sich, auch für Laien verständlich zu sein.
Beispiel: „Meine Frau ist gertenschlank. Wenn ich mit ihr auf einen Berg gehe, muss ich sie alle zwei Stunden mit einem Brezel füttern, sonst wird sie grantig. Der Grund ist, dass der angestrengte Körper versucht, Energie zu mobilisieren. Man merkt das am Adrenalinspiegel, am Herzklopfen, man schwitzt, wird zittrig und nervös. Wer da nichts zu essen kriegt, spürt Symptome wie bei einer Unterzuckerung. Dicke Menschen sind in solchen Situationen im Vorteil: Sinkt ihr Blutzuckerspiegel durch Anstrengung, mobilisieren sie Fett aus dem Bauch. Das fließt zur Leber, und die kann es in Zucker umwandeln.“ Lektion fürs Leben: Sich regen ist für Dicke ein Segen, denn Kilos schmelzen nicht auf der Couch.
Ging’s nach dem Professor, dann wäre „Lebensstilmodifikation“ das wichtigste Wort der nächsten 20 Jahre. Toplak ist auch Leiter der Diätakademie in Graz und hält jedes Jahr bis zu 50 Vorträge im ganzen Land, um gegen die Fettsucht mobil zu machen. Im Interview erzählt er, was möglich ist: „Ein Grazer Manager ist mit 26 Jahren zu mir gekommen, weil er bei 1.91 Meter Größe 165 Kilo wog. Wir haben zweieinhalb Jahre gemeinsam gearbeitet und ihn ohne Magenband auf 99 Kilo runtergebracht. Das geht nicht in der Gruppe, sondern nur mit persönlicher Betreuung. Solche Patienten muss man umprogrammieren.“
Bojen auf Erfolgskurs sind: Drei kleine Mahlzeiten pro Tag und nichts zwischendurch. Wasser hat keine Kalorien, Apfelsaft mehr als eine Cola. Niemals Stressfuttern nach dem Job, sondern unbedingt vor dem Nachtmahl zur Ruhe kommen: „Dann schmecken auch Paradeiser und Radieschen“ (Toplak). Abends ein Stündchen bei niedrigen Herzfrequenzen (Puls 100-120) auf dem Hometrainer strampeln, weil Bewegung nicht nur die Fettzellen, sondern auch den Heißhunger killt.
Wer nicht auf den Professor hört, landet irgendwann in einer Ambulanz wie seiner – auch wenn der Platz dort immer enger wird. Denn die Fakten, erzählt Toplak, „sind erschütternd: Wir haben zunehmend 14-jährige mit 90 Kilo, 18-jährige mit 120 Kilo und 25-jährige mit 150 Kilo. Meine schwerste 26-jährige hat 206 Kilo und BMI 73.“ Nachsatz: „Mit solchen Fällen kommen praktische Ärzte nicht mehr zurecht.“
Allein in der Steiermark leben 100.000 Adipöse, 10.000 davon haben einen BMI über 40. Deshalb regt der Experte an: „Wir brauchen in Österreich dringend so etwas wie Lebensstil-Zentren zur nachhaltigen Behandlung von Typ-2-Diabetes und dem metabolischen Syndrom. Mit profunden Ansprechpartnern für die Patienten, in der Regel werden das Endokrinologen und Reha-Mediziner sein. Mit Bewegungstherapie und vernünftiger Ernährung. Mit therapeutischer Betreuung, weil sich hinter Fettsucht oft Depressionen verbergen. Kurzum: Mit einem breiten Angebot statt der üblichen Zwei-Minuten-Medizin.“
Der Eifer des Diabetologen hat gute Gründe: Einerseits kennt er die Gefahr des Kilo-Tsunamis, der Österreich überrollen wird, wenn Gesundheitspolitiker nicht reagieren. Die aber liegen gleichsam noch am Strand und überlegen, ob sie Lichtschutzfaktor 4 oder 6 empfehlen sollen. Zum anderen weiß Prof. Toplak auch, dass gerade die Therapie von Typ-2-Diabetes Problembewusstsein voraussetzt: „Die Behandlung von Typ 1 ist einfach, weil eine Technik. Beim Typ 2 geht es um eine grundsätzliche Umstellung des Lebensstils. Denn man darf zumindest nicht mehr zunehmen.“
Für alle, die zum Sprung über den eigenen Schatten bereit sind, ist dafür Licht in Sicht. Denn Fachmann Toplak hat gute Nachrichten aus der pharmazeutischen Forschung: „Wir haben zukünftige Anti-Diabetika in Prüfung, die zum Teil auch Anti-Adiposita sind, also den Diabetes übers Gewicht verbessern. Und natürlich sind auch jetzt schon die Glitazone (auch: Sensitizer) eine gute Sache, weil sie die Insulinresistenz nehmen und Patienten damit generell therapierbarer machen, wie die Proactive-Studie zeigt“. Zur Erklärung: Durch die Behandlung mit Glitazonen mussten signifikant weniger Patienten auf Insulin umgestellt werden als in einer Vergleichsgruppe (minus 50 Prozent); gleichzeitig sank das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall.
Prof. Hermann Toplak lehnt sich zurück und hat dabei den Blick des Enthusiasten, der auch Tage über sein Lebensthema sprechen kann, ohne unter Schnappatmung zu leiden. Dann sagt er nur noch einen Satz: „Ich gebe mich nie mit dem, was ich gerade tue, zufrieden.“ Ein Versprechen für 300.000 Diabetiker im Land.
Auf ein Wort – private Fragen an Prof. Toplak
Welche Fehler entschuldigen Sie am ehesten? Jeder von uns hat Fehler. Und man muss akzeptieren, dass jeder andere Fehler haben kann.
Was ist für Sie das größte Unglück? Tod und Krankheit in der Familie.
Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück? Eine gute Ehe und eine harmonische Familie.
Wo möchten Sie leben? Ich lebe gern in Graz.
Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einem Mann am meisten? Ehrlichkeit, Geradlinigkeit und Konsequenz.
Welche Eigenschaften schätzen Sie bei einer Frau am meisten? Dieselben wie bei einem Mann, allerdings mit einem weiblichen Touch.
Ihr Hauptcharakterzug? Vielfältige Interessen, Ehrgeiz und Freude an dem, was ich tue.
Ihr Motto? Dort tiefer über Dinge nachzudenken, wo sie scheinbar ganz einfach sind.
Ihr größter Fehler? Ich nehme mir zu wenig Zeit für mich selbst.
Ihre Lieblingsbeschäftigung? Wandern, Sport und Genießen – vor allem jede Minute, die ich mit meiner Familie habe.
Was verabscheuen Sie am meisten? Unehrlichkeit.
Ihr Traum vom Glück? So lange es uns so gut geht wie derzeit, braucht man keine zusätzlichen Träume.
Welche natürliche Gabe möchten Sie gern besitzen? Das Talent zu vielen Sprachen. Und Klavierspielen würde ich gern, hatte aber nie die Gelegenheit, es zu lernen.
Wie möchten Sie sterben? Am liebsten gar nicht. Ernsthaft: Ohne lange zu leiden und möglichst nicht in dementem Zustand.