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Technischen Errungenschaften: Therapie-Entscheidungshilfen bei Diabetes

Mit Apps und anderen elektronischen Entscheidungshelfern zur Therapie können Menschen mit Diabetes ihren Stoffwechsel optimieren. Sie werden aber meist nach einiger Zeit links liegen gelassen. Künstliche Intelligenz soll das ändern.

(14.4.2023) - Die technischen Errungenschaften der vergangenen Jahre verändern derzeit grundlegend die Diabetestherapie. Ingenieure und technikaffine Ärzte erwarten von Künstlicher Intelligenz (KI) eine zunehmende Leistungsfähigkeit der Software-basierten Medizinprodukte sowie eine vergleichsweise breitere Anwendung in der eigenverantwortlichen und individuell flexibilisierten Diabetestherapie.

Geräte zur kontinuierlichen Glukosemessung (CGM) werden dabei gekoppelt mit Insulinpumpen. Algorithmen automatisieren die Insulinabgabe und Apps für mobile Endgeräte werden zu virtuellen Assistenten.

Elektronische Entscheidungsunterstützungssysteme („decision support systems“, DSS) dienen dazu, patientenspezifische Daten zu analysieren, die wichtigsten zu selektieren, zu priorisieren und diese dann dem Gesundheitsdienstleister oder Diabetespatienten zum passenden Zeitpunkt zu präsentieren, erläutert Dr. Revital Nimri vom Diabetes Technology Center in Petach Tikwa in Israel.

Ziel ist es, mit optimierter Glukosestoffwechseleinstellung Komplikationen vorzubeugen und langfristig die Prognose der Patientinnen und Patienten zu verbessern.

Zwei Schlüsselelemente tragen zur Akzeptanz bei

Jedoch: „Trotz der erheblichen Entwicklungsbemühungen haben diese Systeme noch keine breite Akzeptanz gefunden“, bedauerte Nimri bei der internationalen Konferenz ATTD (Advanced Technologies & Treatments for Diabetes) in Berlin. Es gebe dabei zwei Schlüsselelemente, die zur Akzeptanz von DSS bei Ärztinnen und Ärzten beitragen:

  • Wie gut lässt sich ein DSS in übliche Arbeitsabläufe integrieren? Ist das DSS einfach anzuwenden, spart es Zeit oder belästigt es mit überflüssigen Alarmen?
  • Hat das DSS klinische Relevanz? Das wäre der Fall, wenn sich mit der Anwendung tatsächlich die Versorgung und Patientengesundheit spürbar verbessern lässt. Dazu gehört auch eine gewisse Übereinstimmung der automatisiert erzeugten Empfehlungen mit der medizinischen Einschätzung der jeweiligen Ärztinnen und Ärzte.

Dass diese Übereinstimmung mit KI-basierten DSS erzielt werden kann, weist Nimri anhand eigener Studien nach. An einer dieser Untersuchungen hatten mehr als 100 Patientinnen und Patienten mit Typ-1-Diabetes (T1D) mit einer Insulinpumpentherapie teilgenommen. Diese erhielten von dem System Hinweise zur Anpassung der Insulindosis.

Tatsächlich verbesserte sich über drei und sechs Monate die Zeit im Glukosezielbereich („time in range“, TIR) signifikant. Zu 86 Prozent stimmten die Meinung der behandelnden Therapeuten vollständig mit den KI-basierten Empfehlungen zur Anpassung der Insulindosis überein.

Hohe Übereinstimmungswerte mit Experten-Rat

In einer ähnlichen Studie bei 300 T1D-Patienten, die sich mehrmals täglich selbst Insulin spritzten, ergab sich eine vollständige Übereinstimmung der DSS-Empfehlungen mit der Meinung von Diabetesexperten von 68 Prozent. Beide Übereinstimmungswerte seien vergleichsweise hoch, so Nimri, zumal die Raten vollständiger Nichtübereinstimmung mit den DSS-Empfehlungen nur im niedrigen einstelligen Prozentbereich lagen.

Das von ihr vorgestellte KI-basierte DSS ist als App für mobile Endgeräte verfügbar. Dabei lassen sich die Nutzung und die Anwendungsentscheidungen der Patientinnen und Patienten telemedizinisch von den versorgenden Gesundheitsdienstleistern überwachen.

Dies fördere die Kommunikation zwischen Patienten und Gesundheitsdienstleister, sagte Nimri. Aus der Anwendungsstudie gehe hervor, dass die Patienten die App mindestens drei Mal täglich nutzten.

Nur ein Bruchteil nutzte die Hilfe nach sechs Monaten

Soweit die gute Nachricht. Nach sechs Monaten wurde die App aber nur noch von einem Fünftel derjenigen genutzt, die sie ursprünglich heruntergeladen hatten – trotz hoher Zufriedenheitswerte.

Und diese Anwenderquote ist sogar vergleichsweise hoch. Nimri zitierte Analysen, wonach vor allem Apps mit manueller Dateneingabe nach einem halben Jahr nur noch von 10 Prozent der ursprünglichen Anwender genutzt wird. Günstig wirken sich dagegen die passive/ automatisierte Dateneingabe und die Synchronisation verschiedener elektronischer Geräte, kombiniert mit grafischer Datenausgabe aus.

Nimris Schlussfolgerung: Man dürfe den Menschen nicht einfach nur die Daten geben, ohne zu erklären, was sie damit anfangen sollen. Entscheidend sei die Motivation der Patientinnen und Patienten.

Empfehlungen müssen erläutert werden

Diese Motivation, KI-basierte DSS anzuwenden, bedürfe der Interpretierbarkeit und Erklärbarkeit der vom System ausgegebenen Daten, betonte Professor Peter G. Jacobs von der Oregon Health & Science University (OHSU) in Portland (USA) bei der Konferenz. Jacobs und seine Kolleginnen und Kollegen haben im Rahmen einer Studie mit einem KI-basierten DSS zur Unterstützung der Insulintherapie bei T1D jene Teilnehmenden befragt, die den Empfehlungen des Systems nicht gefolgt waren. Ihre Hauptgründe waren:

  • Sie verstehen nicht, wie die Empfehlungen zustande kommen (Interpretierbarkeit).
  • Sie können nicht nachvollziehen, warum die Empfehlungen auf Basis der Glukosewerte so und nicht anders lauten (Erklärbarkeit).
  • Sie konnten keinen Nutzen der Empfehlungen erkennen (Erklärbarkeit).

Ein Algorithmus gilt nach den Worten von Jacobs als „interpretierbar“, wenn verstanden wird, wie er arbeitet. Unter Erklärbarkeit wird verstanden, dass die ausgegebenen Informationen Sinn ergeben, ohne, dass man die grundsätzliche Arbeitsweise des Systems versteht.

Selbstlernender Algorithmus zeigt Konsequenzen auf

Der Nutzen, der aus der Empfehlung resultiert, muss also verstanden werden. Dies sei möglich, so Jacobs, indem die konkrete Empfehlung mit einer Erläuterung unterlegt wird. Ein Beispiel: Das DSS empfiehlt, „mindere die morgendliche Insulindosis, indem du den Kohlenhydratanteil der Mahlzeit reduzierst!“.

Und die Erklärung: „Simulationen haben ergeben, dass du eine Steigerung der TIR um 5 ± 3 Prozent erreichen kannst sowie eine Reduktion der Zeit mit zu niedrigem Glukosespiegel um 3 ± 5 Prozent, wenn du diese Empfehlung akzeptierst.“

Ein selbstlernender Algorithmus könne zudem langfristige Prognosen eines „digitalen Zwillings“ des Anwenders erstellen: Das Befolgen dieser oder jener Empfehlungen hat diese oder jene günstigen Konsequenzen. Unterlegt wird dies mit grafischen Profilen.

Mithilfe solcher Simulationen der individuellen Zukunft sollen künftig noch mehr auf den Einzelnen zugeschnittene Dosis- und Ernährungsempfehlungen sowie konkrete Hinweise für die körperliche Aktivität generiert werden.

Quelle: https://www.aerztezeitung.de/