Süße Irrtümer mit bitterem Beigeschmack
Egal, ob in Joghurt, Obstsaft, Cola oder sogar Fisch- und Fleischsalat: Süßstoffe gehören in Lebensmitteln mittlerweile zum Standard. Im Unterschied zu Zucker liefern sie wenig bis keine Kalorien, weswegen sich Verbraucher einen Schutz vor Diabetes und Übergewicht erhoffen. Doch diese Hoffnung ist laut aktuellen Studien trügerisch. Und das Krebsrisiko ist offenbar auch nicht vom Tisch.
Manchmal ist Forschung harte Arbeit. Die Wissenschaftler um Eran Elinav vom israelischen Weizmann-Institut wollten wissen, inwieweit der Verzehr von Süßstoff die Darmflora und den Stoffwechsel von Menschen beeinflusst, und dazu brauchten sie zunächst eine Personengruppe, die keine Süßstoffe auf ihrem Speisezettel hatte. Denn die Wirksamkeit einer Substanz lässt sich methodisch nur einwandfrei ermitteln, indem man sie an Menschen ausprobiert, deren Körper noch keinen Kontakt zu ihr hatte.
Also versuchte man, diese Menschen zu finden. Doch das wurde schwieriger als erwartet, weil sich in den Interviews mit potenziellen Testpersonen herausstellte, dass sich nur sehr wenige von ihnen süßstofffrei ernährten. „Wir mussten fast 1400 Personen befragen, bis wir endlich die gewünschten 120 für unsere Studie zusammen hatten“, erzählt Elinav. Der Grund: Das verarbeitete sogenannte Convenience Food unserer Tage ist so voller Süßstoffe, dass man ihnen kaum noch entgehen kann. Nicht umsonst erwirtschaften die Hersteller mit ihnen einen weltweiten Umsatz von 50 Milliarden Dollar pro Jahr.
Das Mikrobiom verändert sich
Als das Forscherteam endlich die Testpersonen zusammenhatte, teilte man sie in sechs Gruppen ein. Vier von ihnen erhielten dreimal täglich ein Beutelchen mit Aspartam, Saccharin, Sucralose oder Stevia. Die fünfte Gruppe erhielt Zucker, und die sechste ein Placebo. Nach zwei Wochen zeigten die Saccharin- und Sucralose-Probanden eine deutlich schlechtere Antwort in den sogenannten Glukosetoleranztests: Ihr Blutzucker sprang in die Höhe, wenn man ihnen 50 Gramm in Wasser gelöste Glukose verabreichte. Solche Veränderungen können langfristig in Übergewicht und Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes münden.
Als man die Darmflora der Probanden untersuchte, entdeckte man vor allem in der Saccharin- und Sucralose-Gruppe, aber auch bei den übrigen Süßstoff-Anwendern eine deutliche Veränderung in der Zusammensetzung des Mikrobioms. Und als dann ein Teil davon in den Darm von Mäusen umgesiedelt wurde, verschlechterte sich ebenfalls deren Glukosetoleranz. Was im Resümee bedeutet: Süßstoffe können über ihren Einfluss auf das Mikrobiom im Darm zu Übergewicht und Diabetes beitragen. Und das Risiko dafür sei, wie Elinav ausführt, bei Saccharin und Sucralose besonders groß, weil sie bei ihrem Weg durch den Körper länger im Darm verweilen und dadurch mehr Kontakt zu den dortigen Bakterien haben.
Die israelischen Forscher stehen mit ihren Befunden nicht allein. Stephan Martin vom Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrum in Düsseldorf betont, dass die Studiendaten insgesamt deutliche Hinweise darauf geben, „dass künstliche Süßstoffe, auch wenn sie keine Kalorien enthalten, zur Unterstützung der Gewichtsreduktion eher weniger geeignet sind“. So fand man für Sucralose, dass es in Kombination mit dem Kohlehydrat Maltodextrin die Insulinausschüttung anregen und dadurch die Fettverbrennung blockieren kann. Und die Kombination der beiden Substanzen sei, wie Martin betont, im Alltag durchaus üblich.
Auffällig appetitanregender Effekt
Bei Frauen entfaltet Sucralose überdies, laut einer Studie der University of Southern California, einen auffälligen, appetitanregenden Effekt. Die US-Forscher hatten ihren männlichen und weiblichen Probanden entweder eine Zuckerlösung, ein Glas Wasser oder ein Sucralose-Getränk kredenzt, und danach durften sie sich an einem Büfett bedienen. Während die Sucralose-Männer dort nicht mehr zulangten als sonst, schaufelten sich die Frauen deutlich mehr auf ihre Teller, wenn sie zuvor den Süßstoff konsumiert hatten. Ein funktionelles MRT ihres Gehirns offenbarte, dass dort die Appetitareale angesprungen waren. Studienleiterin Alexandra Yunker vermutet dahinter einen Trick der Evolution. Demzufolge zeigen gerade junge Frauen eine größere Sensibilität für den Geschmack für Lebensmittel, um – aus Gründen der Fortpflanzungssicherheit – sich und ihre Kinder mit ausreichend Kalorien zu versorgen. Und so verspüren sie eben einen starken Appetit, wenn man ihnen Sucralose kredenzt, die 600-mal so süß ist wie Zucker.
Das gut gepflegte Image der Süßstoffe als Hilfe im Kampf gegen Übergewicht und Diabetes ist also ramponiert. Und potenzielle Auslöser von Krebs stehen sie plötzlich auch wieder in der Diskussion. Ursprünglich hieß es, dass man dazu exzessive Mengen konsumieren müsste. Doch laut einer aktuellen Studie der Sorbonne in Paris reichen dazu wohl auch alltagsübliche Verzehrmengen.
Das Forscherteam um Mathilde Touvier hat die Ernährungsdaten von über 102 000 Erwachsenen ausgewertet und dabei ermittelt, dass regelmäßige Süßstoffkonsumenten ein um 13 Prozent erhöhtes Krebsrisiko haben, selbst wenn sie nur einen Bruchteil der EU-Grenzwerte verzehren. Für Aspartam ergab sich sogar eine Steigerung von rund 15 Prozent, und unter den Krebsarten ging insbesondere beim Brustkrebs die Quote nach oben.
Keine sichere Alternative zu Zucker
„Unsere Untersuchung zeigt, dass künstliche Süßstoffe nicht als ‚sichere‘ Alternative zu Zucker gelten können“, erklärt Touvier. Zumal ihr Team in einer weiteren Untersuchung vermehrt Infarkte und Schlaganfälle unter den Süßstoffanwendern gefunden hat. Die französische Ernährungswissenschaftlerin und Epidemiologin will aber auch keine Panik verbreiten. Sie betont, dass die gesundheitlichen Risiken im Zusammenhang mit dem Süßstoffkonsum nur moderat ansteigen würden. Also nicht vergleichbar etwa mit Bewegungsmangel und Rauchen.
Ganz zu schweigen davon, dass die starken Süßstoff-Konsumenten in der Studie durch ihren ungesunden Lebensstil auffielen. Sie rauchten mehr, aßen weniger Vollkorn, Obst und Gemüse, und sie zeigten eine ausgeprägte Tendenz zu Bewegungsmangel und Übergewicht. All das kann man zwar in der Studienauswertung bis zu einem bestimmten Grad herausrechnen. Doch prinzipiell lässt sich nie ganz ausschließen, dass die Krebs- und Infarktrisiken weniger durch den Süßstoffkonsum als vielmehr den ungesunden Lebensstil der Süßstoffkonsumenten nach oben gehen.
Dies bedeutet am Ende aber auch, dass gerade übergewichtige Bewegungsmuffel gut überlegen sollten, ob sie ihren Kaffee mit Süßstoff trinken. Denn möglicherweise setzen sie ihrem ohnehin schon erhöhten Infarkt- und Krebsrisiko noch zusätzlich eines drauf. Zum Zucker zurückkehren sollten sie allerdings auch nicht. Denn der habe, warnt Touvier, erst recht negative Folgen für die Gesundheit, wenn man ihn in großen Mengen verzehrt. Es ginge vielmehr darum, „generell den Konsum von süßen Lebensmitteln zu reduzieren und weniger Produkte mit Zucker oder Süßstoffen im Handel anzubieten“.
Die wichtigsten Süßstoffe
Saccharin: Seit 1885 auf dem Markt und damit der älteste aller Süßstoffe. Hitzestabil, also auch zum Kochen und Backen geeignet. In hohen Dosierungen etwas bitter.
Sucralose: Die geschmackliche Wahrnehmung ihrer Süße setzt spät ein, nach dem Herunterschlucken ist ein anhaltender süßer Nachgeschmack feststellbar.
Aspartam: Kommt dem Geschmack von Zucker besonders nahe. Bei Hitze verliert es jedoch an Süßkraft.
Acesulfam: Wird vom Körper größtenteils unverändert wieder ausgeschieden.
Cyclamat: Ein guter „Teamplayer“, wird gerne mit anderen Süßstoffen wie Saccharin kombiniert. In den USA als potenziell krebserregend eingestuft – und daher verboten.
Sorbit, Mannit und Xylit: Das sind keine Süßstoffe, sondern Zuckeraustauschstoffe. Es handelt sich hierbei um Kohlenhydrate, die nicht nur süß schmecken, sondern – im Unterschied zu den Süßstoffen – auch Kalorien liefern.
Stevia: Wird aus dem Honigstrauch „Stevia rebaudiana“ gewonnen, ist also kein synthetisch hergestellter Süßstoff. In hohen Dosierungen kann es einen bitteren Beigeschmack haben, den man unter anderem durch züchterische Maßnahmen zu korrigieren versucht.