Sensible Sprache: Bitte nicht mehr „Diabetiker“ sagen
Auf Diabetes-Kongressen und in Fachpublikationen begegnet man ständig „schlecht eingestellten Diabetikern“, denen es an „Therapietreue mangelt“ und die deshalb „einer Lebensstilintervention zugeführt werden müssen“. An dieser Sprache muss sich dringend etwas ändern, findet die Bloggerin, Journalistin und Patientin Antje Thiel.
Die Sprache formt das Denken und umgekehrt. Wie man mit und über Menschen mit Diabetes spricht, beeinflusst, wie man über sie denkt. Dies wiederum prägt unsere Sprache beim Thema Diabetes. Und wie Menschen mit Diabetes angesprochen werden, kann ihr Selbstbild und die Haltung zu ihrem Diabetes beeinflussen. Gute Gründe also, sich mit der „Sprache des Diabetes“ zu beschäftigen. Allerdings gibt es hierzulande bis dato lediglich zwei sprachliche Errungenschaften: Diabetes heißt heute nicht mehr Zuckerkrankheit und statt Diabetiker heißt es immerhin „Menschen mit Diabetes“, wenn auch noch nicht bei allen.
Anders in Australien, Großbritannien und den USA: Hier wird unter dem Hashtag #LanguageMatters seit einigen Jahren in den sozialen Medien, auf Blogs und in Fachmedien intensiv darüber diskutiert, wie man mit und über Menschen mit Diabetes sprechen kann, ohne sie zu diskriminieren und zu stigmatisieren. Es ist eine Diskussion, die weit über die simple Frage „Sagen wir nun ‚Diabetiker‘ oder ‚Menschen mit Diabetes‘?“ hinausgeht.
So hat die Organisation Diabetes Australia als Pionier auf diesem Gebiet bereits 2011 ein Positionspapier veröffentlicht, mit dem sie für eine neue Sprache im Umgang mit Diabetes plädiert (1). Die Empfehlungen richten sich in erster Linie an Ärztinnen und Ärzte sowie ihre Diabetesteams. Ihre Kernbotschaft: Sprache kann Menschen zu einem eigenverantwortlichen Umgang mit ihrem Diabetes motivieren – oder unrealistische Vorstellungen wecken und dadurch Gefühle von Schuld, Überforderung und Versagen auslösen.
Eine Sprache, die Menschen mit Diabetes als passive Empfänger medizinischer Behandlung darstellt, die sich nach ärztlichen Anweisungen zu richten haben, ist zu vermeiden. Hilfreich ist hingegen eine Sprache, die Menschen mit Diabetes in ihren Lebens- und Gesundheitsentscheidungen respektiert und sie ermutigt und befähigt, ihr Diabetesmanagement selbst in die Hand zu nehmen. In den USA gibt es seit 2017 ähnliche Leitlinien zum sprachlichen Umgang mit Diabetes, die von der American Association of Diabetes Educators (AADE) und der American Diabetes Association (ADA) gemeinsam erarbeitet wurden (2). Einen vergleichbaren praxisnahen Leitfaden hat der britische National Health Service (NHS) 2018 herausgegeben (3).
Die englischsprachige Fachpresse hat sich des Themas ebenfalls angenommen. In einem sehr lesenswerten Editorial ist zum Beispiel der (fiktive) Dialog zwischen zwei Diabetesprofis, die sich über einen Patienten unterhalten abgedruckt: einmal in abwertender und einmal in empathischer Sprache (4). In beiden Versionen geht es im Kern um denselben Sachverhalt, nämlich einen Patienten mit Typ-1-Diabetes, hohen Glukosewerten und einer Stoffwechselentgleisung, der schon häufiger in der Ambulanz behandelt wurde und bereits an diversen Insulin-Studien teilgenommen hat.
Zwei Sprachen, zwei Welten
Und doch liegen Welten zwischen dem Gefühl, das die zwei Versionen des Dialogs vermitteln. In der ersten Fassung sprechen die Fachleute über ihn als einen hoffnungslosen Versager und „schwierigen Patienten“, den man lieber nicht in der Sprechstunde haben möchte. In der zweiten Fassung vermitteln sie das Bild eines Patienten, der eine harte Zeit mit seinem Diabetes durchmacht und deshalb Unterstützung benötigt. Den Unterschied macht allein die Wortwahl.
Die International Diabetes Federation (IDF) hat 2018 eine Kampagne in den sozialen Medien gestartet, mit der sie die Stimmen von Menschen mit Diabetes stärken will, die von Komplikationen betroffen sind (5). Sie soll den Austausch mit den Diabetesprofis im Gesundheitswesen fördern, der im englischsprachigen Raum mittlerweile auch auf Kongressen und in wissenschaftlichen Fachzeitschriften stattfindet. So gab es beispielsweise beim Kongress der ADA 2019 in San Francisco eine eigene Sitzung mit dem Titel „Language Matters – A Health Care Professional’s Perspective“ (6). Das British Medical Journal unterhält sogar eine eigene Rubrik – Titel: „What our Patients say“ –, in der die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Hier haben sich Anfang 2019 die australische Typ-1-Bloggerin Renza Scibilia, eine der Autorinnen des Positionspapiers und Mitinitiatorin der #LanguageMatters-Bewegung, und der britische Typ-1-Blogger Chris Aldred zum Thema „Talk about complications“ geäußert (7).
Bei Aldred war 2018 ein Fußulkus festgestellt worden. Im Verlauf der Therapie erlebte er immer wieder, wie einzelne Mitglieder seines Behandlungsteams mit abwertenden oder vorwurfsvollen Bemerkungen auf sein Ulkus reagierten. Er begann, unter dem Hashtag #TalkAboutComplications über seine diesbezüglichen Erfahrungen zu schreiben, stieß auf große Resonanz innerhalb der Diabetes-Community und hält mittlerweile überall in der Welt Vorträge zu diesem Thema.
Es ist an der Zeit, sich auch in Deutschland die Bedeutung von Sprache in der Diabeteskommunikation bewusst zu machen. Denn bislang gibt es nichts, das den oben geschilderten Aktivitäten rund um #LanguageMatters auch nur nahekommt. Weder haben die beiden großen Diabetesorganisationen Deutsche Diabetes Gesellschaft (DDG) und DiabetesDE sich mit Empfehlungen positioniert, noch diskutieren Fachleute auf Kongressen über positiven und ermutigenden Sprachgebrauch.
Dabei gibt es auch in der deutschen Sprache viele Begriffe und Redewendungen, die die Betroffenen stigmatisieren und diskriminieren. Sie begegnen einem regelmäßig im Leben mit Typ-1-Diabetes und noch viel häufiger, wenn man als Medizinjournalist unterwegs ist. Auf Diabeteskongressen hört man die Diabetesexperten quasi in freier Wildbahn sprechen, wenn sie sich von Patientinnen und Patienten unbeobachtet wähnen.
Dem Fachjargon verhaftet
Niemand nimmt an, dass Ärztinnen und Ärzte sowie ihre Diabetesteams absichtlich abwertende Formulierungen verwenden, wenn sie mit und über Menschen mit Diabetes sprechen. Allerdings gewöhnt sich jeder Mensch in seinem beruflichen Umfeld über die Jahre einen bestimmten Fachjargon an, den er von sich aus nicht unbedingt kritisch hinterfragt. Doch es wäre wünschenswert, wenn die Diabetesprofis zum einen ihren Sprachgebrauch reflektierten. Und zum anderen auch dann respektvoll und empathisch kommunizierten, wenn sie untereinander über Menschen mit Diabetes sprechen – sei es auf Kongressen, in wissenschaftlichen Veröffentlichungen oder im Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen.
Im Folgenden soll anhand einer (mit Sicherheit unvollständigen) Liste typischer Begriffe und Formulierungen – von Unwörtern sozusagen – gezeigt werden, wie man es durch geeignetes Vokabular besser machen könnte.
„Mensch mit Diabetes“ statt „Diabetiker oder Diabetikerin“
Bevor man selbst die Diagnose Typ-1-Diabetes erhalten hat, ist es vermutlich schwer, diese Unterscheidung nachzuvollziehen. Aber viele Patienten empfinden die Bezeichnung „Mensch mit Diabetes“ als deutlich angenehmer. Denn Menschen haben viele verschiedene Eigenschaften – und der Diabetes ist nur eine von ihnen.
„Mit Diabetes leben“ statt „an Diabetes leiden“
Natürlich gibt es Tage, an denen ein Patient tatsächlich „unter“ seinem Diabetes leidet. Aber „an“ Diabetes, so ganz generell? Neutraler und viel weniger entmutigend klingt „mit Diabetes leben“. Das muss man tatsächlich, aber es gibt zum Glück für diese Menschen auch sehr viele gute Tage.
„Diabetesmanagement“ statt „Diabeteseinstellung“
„Wie geht es dir denn mit deinem Diabetes? Bist du auch gut eingestellt?“ Menschen mit Diabetes sind Fragen dieser Art vertraut. Der Begriff der „Blutzuckereinstellung“ hält sich hartnäckig. Doch er vermittelt den falschen Eindruck, als sei Diabetes eine Erkrankung, mit der man lediglich alle drei Monate zum Arzt geht, der dann – ähnlich wie eine Autowerkstatt bei der Inspektion – alles „neu einstellt“.
Der Stoffwechsel ist kein Apparat, an dem man lediglich hier und da ein Rädchen dreht, damit alles wie am Schnürchen läuft. Oft spielt der Diabetes sein eigenes Spiel, und man versteht erst rückblickend, was genau an einem blöden Tag schiefgelaufen ist. Das hat nichts mit Versagen oder „falscher Einstellung“ zu tun. Patienten „managen“ ihren Diabetes und nutzen dafür alle Informationen und (physischen, zeitlichen, finanziellen und mentalen) Ressourcen, die gerade verfügbar sind.
„Gemeinsam erarbeitete Therapieziele“ statt „Compliance, Adhärenz oder Therapietreue“
Diese drei Begriffe sind Synonyme, selbst wenn Adhärenz aktuell als ein wenig moderner gilt. Doch der Gedanke, der dahintersteckt, ist ziemlich unmodern: Der Arzt legt die Therapie fest, die Patientin oder der Patient befolgt die Anweisungen. Wer das nicht tut, verhält sich regelwidrig, gilt als unzuverlässiger Therapieverweigerer, handelt gegen die eigenen Gesundheitsinteressen und wegen der entstehenden Kosten auch gegen das Allgemeinwohl.
Hierzu ein Beispiel mit der Überschrift „Typ-2-Diabetes: Compliance mangelhaft“ aus der Pharmazeutischen Zeitung (8): „Fällt ein Typ-2-Diabetiker durch schlecht einstellbare Blutzuckerwerte auf, könnte es daran liegen, dass er die verordneten Medikamente überhaupt nicht anwendet. Eine Studie (…) zeigt jetzt, dass es um die Compliance bei Patienten mit Typ-2-Diabetes nicht besonders gut bestellt ist. Am häufigsten wird demnach die Einnahme von Metformin verweigert (…).“
Dabei sind die Begriffe Compliance & Co. im Grunde überflüssig, wenn die Diabetesteams gemeinsam mit ihren Patientinnen und Patienten besprechen, was in der aktuellen Lebenssituation sinnvolle Therapieziele sind – und wie man sie realistisch erreichen kann.
„Diabetes managen“ statt „Patienten behandeln“
Mit Sicherheit sind immer noch viele Ärztinnen und Ärzte davon überzeugt, dass sie es sind, die den Diabetes behandeln. Dieser Eindruck bestätigt sich Zuhörern immer dann, wenn sie etwa bei einem Kongress in der Mittagspause Gesprächsfetzen auffangen wie: „Ich habe den Patienten dann auf Medikament XY umgestellt.“ Dabei sind die meisten Patienten nur einmal im Quartal für eine Viertelstunde bei ihrem Diabetologen oder ihrer Diabetologin in der Praxis. In der restlichen Zeit sind sie auf sich allein gestellt und managen die Erkrankung eigenverantwortlich.
„Hohe und niedrige“ statt „gute und schlechte“ Blutzuckerwerte
Es ist nicht sonderlich hilfreich, von „guten“ oder „schlechten“ Werten zu sprechen, weil damit eine Wertung verbunden ist, die leicht Stress auslösen kann. Besser ist es, neutral über „hohe“ und „niedrige“ Blutzuckerwerte oder von „Werten im Zielbereich“ zu sprechen. Dies gilt natürlich ebenso für HbA1c-Werte oder andere Laborparameter.
Ermutigen und informieren statt mit Folgeschäden drohen
„Wenn Sie sich nicht besser um ihren Diabetes kümmern, dann …“ Leider gibt es noch immer viele Ärztinnen und Ärzten, die Betroffenen damit drohen, dass sie demnächst Insulin spritzen müssen, erblinden, an die Dialyse müssen oder Gliedmaße verlieren, wenn sie nicht endlich bessere Therapietreue an den Tag legen. Sicher steigt das Komplikationsrisiko, wenn man das Diabetesmanagement vernachlässigt. Doch Drohungen sind im Umgang mit Menschen jeden Alters selten Erfolg versprechend, denn sie machen Angst und lösen Gefühle von Versagen und Resignation aus. Stabile Werte gelingen viel eher, wenn das Diabetesteam ermutigt und Informationen bereithält, die den eigenverantwortlichen Umgang mit dem Diabetes erleichtern.
Risiken kommunizieren statt falsche Kausalitäten behaupten
„Ziel einer Diabetes-Therapie ist es, den Blutzucker adäquat einzustellen und so die Lebensqualität zu steigern sowie akute und spätere Komplikationen zu vermeiden.“ Dieser Satz stammt aus einem Text des Diabetesinformationsdienstes des DDZ (9). Er findet sich jedoch variiert in nahezu jedem Beitrag über Diabetes. Doch er stellt eine unzutreffende Kausalität her. Ein Leben ohne jegliche Blutzuckerschwankungen ist keine Garantie für das Ausbleiben von Folgeerkrankungen. Es verringert ihr statistisches Risiko deutlich, aber hundertprozentig vermeiden lassen sie sich eben nicht. Im Umkehrschluss bedeuten permanente Achterbahnfahrten beim Glukosespiegel auch nicht das sichere Eintreten von Folgeerkrankungen. Falsche Kausalzusammenhänge können Angst, Selbstvorwürfe und Schuldgefühle auslösen. Wir sollten uns daher angewöhnen zu sagen, dass sich mit einem guten Diabetesmanagement das „Risiko für Folgeerkrankungen verringern“ lässt.
Mehr Bewegung und ausgewogene Ernährung empfehlen statt Patienten einer Lebensstilintervention zuführen
„In einer kontrollierten Studie in den USA wurden daher 31 übergewichtige oder fettsüchtige Menschen (…) entweder einer intensiven Lebensstil-Intervention zugeführt oder sie erhielten nur eine standardisierte Beratung“ – so gelesen bei Diabetes-Deutschland.de (10). Dass der Begriff „fettsüchtig“ völlig indiskutabel ist, versteht sich hoffentlich von selbst. Aber ebenso sollte es der Begriff „Lebensstilintervention“ sein. Wenn Patientinnen und Patienten nach einem strukturierten Plan ihr Essverhalten ändern und sich mehr bewegen sollen, funktioniert das nicht ohne eigene Aktivität der Betroffenen.
Dafür muss der Wunsch nach Veränderung reifen, zudem braucht es einen starken Willen und viel Durchhaltevermögen. Wer nun aber sagt, er habe Patienten einer Lebensstilintervention zugeführt, lässt sie als willfährige, passive Masse erscheinen, die sich beliebig hin- und herschubsen lässt. Hier kann man nur an alle Therapeuten appellieren: Bitte streichen Sie das schlimme Phrasenungetüm „einer Lebensstilintervention zuführen“ ganz schnell aus dem Vokabular! Auch in Studienprotokollen.
Angesichts der Zeit der guten Vorsätze wünschen sich sicher viele Menschen mit Diabetes in Deutschland für 2020, dass endlich intensiver über die „Sprache des Diabetes“ nachgedacht und diskutiert wird – gemäß der Volksweisheit: „Wähle deine Worte mit Bedacht – bedenke stets der Worte Macht!“ Antje Thiel
Quelle: www.aerzteblatt.de/lit0120
Antje Thiel schrieb über Diabetes, lange bevor sie die Diagnose „Typ-1-Diabetes“ erhielt. Die Medizinjournalistin ist überzeugt, dass die eigenen Erfahrungen als Patientin ihre Texte besser gemacht haben. Das bestätigt der Journalistenpreis der Deutschen Diabetes Gesellschaft: Die passionierte Bloggerin wurde unlängst in der Kategorie online ausgezeichnet. Für das Deutsche Ärzteblatt erläutert sie, warum es nicht egal ist, wie mit Patienten gesprochen und wie über sie geschrieben wird.