2019 haben sich die Diabetesleitlinien deutlich geändert!
Im Jahr 2016 gab es das letzte Update der ÖDG-Diabetesleitlinien. Nun ist es in diesem Jahr wieder so weit. Das Update der Leitlinien 2019 wurde vor Kurzem veröffentlicht. Seit Langem ist an der Erstellung der ÖDG-Leitlinien Prof. Martin Clodi von den Barmherzigen Brüdern in Linz federführend beteiligt. In den drei Jahren haben sich viele Aspekte verändert. Um diese Veränderungen für die tägliche Praxis zusammenzufassen, hat sich ein großes Team bei der Erstellung der Leitlinien engagiert.
Herr Prof. Clodi, die ÖDG-Leitlinien wurden kürzlich upgedatet, das ist eine umfangreiche Aufgabe – wer war in diesem Jahr maßgeblich daran beteiligt?
M. Clodi: Wir haben uns zum einen auf die erfahrenen Autoren wie beim letzten Mal gestützt. Zum anderen waren aber zahlreiche neue, jüngere Kolleginnen und Kollegen am Update der Leitlinien beteiligt. Wir haben versucht, alle Kollegen und Kolleginnen einzubeziehen, die sich intensiver mit dem Gebiet der Diabetologie beschäftigen.
Auf welche Teile der Leitlinien wurde heuer besonderes Augenmerk gelegt und was waren die Gründe dafür?
M. Clodi: Unser besonderes Augenmerk lag auf allem mit Bezug zu den in den letzten drei Jahren publizierten großen internationalen Studien zum kardiovaskulären Outcome von Antidiabetika. Das sind im Speziellen jene Studien, in denen die GLP-1-Agonisten und SGLT2- Hemmer untersucht worden sind, aber auch Studien mit DDP-4-Hemmern. Es liegen nun sehr große Studien vor, die für bestimmte Therapien einen ganz klaren Benefit bis hin zur Mortalitätsreduktion für die Patienten nachweisen. In anderen Studien wiederum konnte für andere Medikamentengruppen kein Unterschied im kardiovaskulären Outcome gezeigt werden. Diese wichtigen Aspekte sind natürlich in die neuen Leitlinien eingegangen. Einen zentralen Punkt nimmt die Frage ein, wie man die antihyperglykämische Therapie bei Patienten mit Typ-2-Diabetes gestaltet. In diese Frage haben wir sehr viel Energie investiert und wir haben uns natürlich an den gemeinsamen amerikanischeuropäischen ADA/EASD-Leitlinien orientiert. Diese internationalen Leitlinien wurden ebenso dramatisch verändert, und wir haben dem ebenfalls Rechnung getragen.
Was waren die Schwierigkeiten beim diesjährigen Update?
M. Clodi: Eine Schwierigkeit ist der mittlerweile große Gesamtumfang der Leitlinien. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass es sehr viele Teilaspekte im Bereich des Diabetes und der Komplikationen gibt, die in den Leitlinien abgebildet werden sollen. So sind beispielsweise in den letzten Jahren die neuen Arten von Glukosemessungen, neue Insulinpumpen usw. dazugekommen. Es gibt sehr viele moderne neue Entwicklungen in der Diabetologie. Das alles in Leitlinien abzubilden ist oft schwierig, weil natürlich versucht werden muss, dies bestmöglich im Hinblick auf die Evidenz zu machen. Gerade dies war das vorrangige Ziel, und obwohl dies eigentlich das Ziel in allen Leitlinien ist, gibt es eine Analyse über 51 internationale Leitlinien (26 rezente ACC/AHA-Guidelines und 25 rezente ESC-Guidelines, publiziert zwischen 2003 und 2018), die ergeben hat, dass von den Empfehlungen nur bei 8,3% harte Evidenz (Evidenz Level A) im Hintergrund besteht.
Das ist auch die Schwierigkeit bei den österreichischen Leitlinien, die sich ja meistens auf die ADA/EASD-Leitlinien beziehen.
M. Clodi: Natürlich kann man alles aus den internationalen Leitlinien übernehmen. Und um die Frage zu beantworten, ob man in Österreich eigene Leitlinien braucht: Im Grunde – nein. Doch es gilt dabei auch zusätzliche Aspekte zu bedenken. So sind internationale Leitlinien in einer anderen Sprache, meist in Englisch, verfasst. Sie sind noch umfangreicher als unsere ÖDG-Leitlinien und beinhalten auch Teile, die uns in Österreich in einer ganz anderen Art und Weise tangieren. So sind etwa in solchen Leitlinien Medikamente abgebildet, die bei uns gar nicht auf dem Markt sind. Das reicht von Amylin in Amerika bis hin zu Sulfonylharnstoffen, die bei uns an Bedeutung verloren haben und nur mehr rund 20% der Diabetesmedikamente ausmachen. Es sind Medikamente bei uns zugelassen, die in den USA nicht zugelassen sind, und umgekehrt. Außerdem liegt bei diesen gemeinsamen europäischen und amerikanischen Leitlinien ein großer Fokus auf Regionen, in denen die finanziellen Mittel wirklich sehr knapp sind. Natürlich müssen auch wir kosteneffektiv arbeiten, dennoch ist unser Gesundheitssystem so gut ausgebaut, dass wir uns an den modernen Medikamenten mit evidenzbasierten Studien orientieren können. Das gilt für manche anderen Regionen der Welt nicht, aber sie sind in internationalen Guidelines enthalten. Daher macht es schon Sinn, österreichische Leitlinien aufzulegen.
Gibt es komplett neue Teile in den Guidelines?
M. Clodi: Es würde sicher den Umfang unseres Interviews sprengen, alle Neuerungen zu erwähnen, schließlich sind wir ja wie gesagt lange am Update der Leitlinien gesessen. Wer die Leitlinien liest, sollte sich aber auf jeden Fall die Teile zum Typ-1-Diabetes, zum Typ-2-Diabetes, zu Kindern mit Diabetes sowie zu Diabetes bei Schwangeren ansehen. Hier haben sich im Vergleich zu unseren Leitlinien aus dem Jahr 2016 komplett neue Teile ergeben.
Welches sind die wichtigsten Punkte, die man in der täglichen Praxis umsetzen soll?
M. Clodi: Das Wichtigste ist, dass es wegen des Umfangs auch wieder eine Kurzversion der Leitlinien geben wird. Diese wird in Analogie zur Kurzversion von 2016 erstellt werden. Entscheidend ist sicher die Leitlinie zur antihyperglykämischen Therapie bei Diabetes mellitus Typ 2 und zur Frage, welche Aspekte sich dramatisch geändert haben. Es sind die Definitionen zu Diagnostik und Screening neu zusammengestellt worden. Nachdruck wird insbesondere auf den Lebensstil gelegt, der die Basis jeder Therapie sein sollte. Ganz wichtig ist auch der Punkt Diabetes im Kindes- und Jugendalter. Ein wesentlicher Punkt ist außerdem die kontinuierliche Glukosemessung, weil diese eine enorm weite Verbreitung gefunden hat. Neu ist auch ein Update zu den Thrombozytenaggregationshemmern, die in der Primärprävention bei Menschen mit Diabetes überhaupt nicht mehr eingesetzt werden sollen. Die Leitlinie zu den diabetischen Augenerkrankungen ist ebenfalls ganz neu gestaltet und völlig neu bearbeitet worden. Die anderen Leitlinien wie die zu Herzkrankheit, Herzinsuffizienz und kritisch Kranken wurden upgedatet bzw. orientieren sich an der neuen Studienlage zum kardiovaskulären Outcome. Neu ist ein Kapitel zur akuten diabetischen Entgleisung, also zum ketoazidotischen Koma und zur hyperglykämischen osmolaren Stoffwechselentgleisung. Des Weiteren haben wir einen Teil zum Diabetesmanagement im Krankenhaus eingeführt, damit bieten die Leitlinien nun auch besonders für im Spital tätige Ärzte eine wesentliche Hilfestellung.
Wie und wann ist geplant, diese Updates z.B. auch in Fortbildungen wie DMP Therapie Aktiv einfließen zu lassen?
M. Clodi: Wir sind in Kontakt mit den Verantwortlichen von Therapie Aktiv, die diese Fortbildungen in Kombination bzw. in Kooperation mit den Leitlinien der ÖDG machen wollen.
Wo kann man die Diabetesleitlinien nachlesen?
M. Clodi:
Die Leitlinien sind seit 12. April online verfügbar und können in der Wiener klinischen Wochenschrift gelesen werden unter folgendem Link: link.springer.com/journal/508/131/1/suppl/page/1
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Christian Fexa
Gesprächspartner:
Prim. Univ.-Prof. Dr. Martin Clodi
Vorstand der Internen Abteilung
Krankenhaus der Barmherzigen Brüder Linz
E-Mail: martin.clodi(at)bblinz.at
„In den letzten Jahren hat es dramatische Änderungen in der Therapie des Typ-2-Diabetes gegeben, in Form von neuen Medikamenten mit dramatisch positiven Studien, in Form der kontinuierlichen Glukosemessungen, aber auch beim Typ-1-Diabetes und vielem mehr. Diese Änderungen sind in den neuen Leitlinien berücksichtigt, sodass diese für alle, die Menschen mit Diabetes behandeln, wirklich von Bedeutung sind.“
Quelle: JATROS Diabetologie & Endokrinologie 2019; 2: 9-10