Neuer Schub in der Forschung zu Typ-1-Diabetes
Eine öffentlich-private Forschungspartnerschaft im Rahmen der europäischen Innovative Medicines Initiative – Joint Undertaking (IMI-JU) gibt Typ-1-Diabetikern und ihren Familien neue Hoffnung: Das europäische Forschungsprojekt INNODIA könnte langfristig zu neuen Therapiemöglichkeiten gegen eine chronische Erkrankung führen, die oft schon im Kindes- und Jugendalter beginnt. Eine groß angelegte Forschungsstudie, bei der biologische Proben und Daten von neu diagnostizierten Typ-1-Diabetikern und ihren nahen Verwandten untersucht werden, soll dabei helfen, die Entstehung und den Verlauf der Krankheit besser zu verstehen. Es gilt, das Risiko für Verwandte vorauszusagen, ebenfalls an Typ-1-Diabetes zu erkranken, und langfristig eine Heilungsmöglichkeit für bereits Erkrankte zu entwickeln.
Weltweit leben rund 18 Millionen Menschen mit Typ-1-Diabetes, über 3,8 Millionen allein in Europa. In den meisten Fällen bricht die Krankheit bereits im Kindes- oder Jugendalter aus. Die Bauchspeicheldrüse produziert zu wenig oder gar kein Insulin mehr – ein Hormon, das der Körper benötigt, um den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren. Die Patienten müssen deshalb ihr Leben lang mehrmals täglich Insulin injizieren und ihre Essensaufnahme kontrollieren. Typ-1-Diabetes ist eine Autoimmunerkrankung, bei der Zellen des Immunsystems die Insulin produzierenden Betazellen in der Bauchspeicheldrüse zerstören.
Europaweite Studie mit Patienten und nahen Verwandten
„Das Ziel von INNODIA ist es, die Insulin produzierenden Betazellen und die Mechanismen ihrer Zerstörung durch das Immunsystem sowie den Einfluss von genetischen und Umweltfaktoren beim Ausbruch der Krankheit besser zu verstehen“, erklärt Dr. Anke M. Schulte von Sanofi, die das Konsortium zusammen mit Prof. Dr. Chantal Mathieu von der Katholieke Universiteit Leuven (Belgien) leitet. „Langfristig sollen die erhaltenen Erkenntnisse dazu genutzt werden, das Fortschreiten von Typ-1-Diabetes gezielter anzugehen“.
Die Grundvoraussetzung dafür war der Aufbau eines europäischen klinischen Forschungsnetzwerks mit standardisierten klinischen und biologischen Forschungsplattformen. „Das ist mit vollem Erfolg erreicht, und es gibt inzwischen 51 Zentren in 13 europäischen Ländern, in denen Patienten rekrutiert, Proben gesammelt und an ausgewählten Zentren bearbeitet werden“, so die INNODIA-Projektleiterin und Wissenschaftliche Projektleiterin für Kooperationen in der Diabetes Typ-1 Forschung bei Sanofi. Das Ziel ist es, an den klinischen Zentren insgesamt 1.500 Kinder und Erwachsene zu rekrutieren, bei denen in den vergangenen sechs Wochen Typ-1-Diabetes diagnostiziert wurde, und diese für zwei Jahre zu begleiten. Ferner sollen 3.000 Verwandte ersten Grades rekrutiert werden, die auf Grund ihres genetischen Profils ein erhöhtes Risiko haben Typ-1-Diabetes zu entwickeln, und diese für vier Jahre zu begleiten.
In Deutschland beteiligen sich Kliniken in Hannover und Ulm an INNODIA; sie werden bei der Rekrutierung von Kliniken in Düsseldorf und Freiburg unterstützt. „Die Studienteilnehmer werden von den Kliniken regelmäßig eingeladen, um Blut-, Urin- und Stuhlproben abzugeben und medizinische Tests zu absolvieren, um die Kapazität der Insulin produzierenden Betazellen zu bestimmen“, erklärt Anke M. Schulte. Damit die Ergebnisse vergleichbar sind, wurde innerhalb von INNODIA ein sogenanntes „Master-Protokoll“ entwickelt. „Mit diesem ‚Master-Protokoll‘ haben wir in INNODIA die Grundlage für höchste Standardisierung geschaffen“, so Anke M. Schulte weiter. Es ist das Fundament künftiger klinischer INNODIA-Studien, wie auch von drei Phase II-Studien, die in der zweiten Jahreshälfte 2020 anlaufen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt von INNODIA ist die Nähe zu den Patienten. Zu diesem Zweck wurde ein beratender Patientenausschuss ins Leben gerufen.
Die Mitglieder bringen die Erfahrungen und Wünsche von Patienten und ihren Familien in die Ausrichtung von INNODIA ein, helfen bei der Ausarbeitung von Studienprotokollen und unterstützen die Verbreitung der Ziele von INNODIA in der Öffentlichkeit. „Sie nehmen an unseren wissenschaftlichen Meetings und Konferenzen teil“, erzählt Anke M. Schulte, „sie beraten uns zu den Bedürfnissen von Patienten und Angehörigen und wir bringen ihnen Wissenschaft in verständlicher Sprache nahe“.
Auf der Suche nach Biomarkern
An INNODIA beteiligen sich insgesamt 27 akademische Einrichtungen, vier große Pharma-Unternehmen, ein mittelständisches Unternehmen und zwei Patientenorganisationen. Seit dem Start im Jahr 2015 gab es rund 90 wissenschaftliche Publikationen, an denen INNODIA-Teilnehmer mitgearbeitet haben. „Wir haben es geschafft, dass Grundlagenforscher sehr eng mit klinischen Forschern zusammenarbeiten“, sagt Anke M. Schulte – diese Zusammenarbeit soll dazu führen, dass Biomarker gefunden werden, mit deren Hilfe sich das Stadium der Erkrankung und ihres Fortschreitens besser ableiten lässt. „Solche Marker sollen dann helfen, verschiedene Patientengruppen besser zu identifizieren, die auf unterschiedliche Medikamente ansprechen“.
Und weiter erklärt Anke M. Schulte: „Es ist leider so, dass in der Vergangenheit viele klinische Studien zum Typ-1-Diabetes nicht erfolgreich waren. Es handelt sich um eine heterogene Krankheit. Wir versuchen nun, besser zu verstehen, in welchem Krankheitsstadium sich das Immunsystem befindet und wir wollen die Mechanismen erkennen, die unterschiedliche Stadien der Erkrankung auslösen.“ Die bei INNODIA gewonnenen Informationen werden in einer Datenbank gespeichert und für künftige Forschungsarbeiten verwendet. Ziel ist es, dass die Suche nach neuen medikamentösen Ansätzen gegen Typ-1-Diabetes in Zukunft deutlich schneller und erfolgreicher als bisher vonstattengehen kann.
Die bisherigen INNODIA-Ergebnisse sind sehr vielversprechend und die Innovative Medicine Initiative (IMI) hat im Mai eine weitere Stufe zur Untersuchung von Biomarkern und zur Prävention von Typ-1-Diabetes genehmigt: das Projekt INNODIA HARVEST mit einem Zuschuss von 12 Millionen Euro. „INNODIA HARVEST ermöglicht es uns, zusätzliche klinische Studien durchzuführen und noch tiefer in die molekularen Analysen einzusteigen“, so Anke M. Schulte.
Verzögerungen durch Coronavirus-Pandemie
Wie viele andere IMI-Projekte wird auch INNODIA durch die COVID-19 Pandemie in Mitleidenschaft gezogen. „Seit Mitte März gab es in den teilnehmenden INNODIA-Kliniken keine Patientenrekrutierungen mehr“, erläutert Anke M. Schulte, „aber jetzt sind einige Kliniken und Labore wieder aktiv und es läuft langsam wieder an.“ In den vergangenen Wochen gab es allerdings trotz COVID-19 noch genug zu tun: „Wir haben uns auf die Analyse der vorhandenen klinischen und molekularen Daten konzentriert.“
Anke M. Schultes schönstes Erlebnis bei INNODIA war es, zu sehen, wie aus einer 2014 verfassten Idee ein sehr erfolgreiches europäisches Projekt gewachsen ist, bei dem Kliniker, Grundlagenforscher, Krankenschwestern und Patienten hervorragend zusammenarbeiten: „All diese Menschen arbeiten an dem einen Ziel, gemeinsam etwas gegen Typ-1-Diabetes zu unternehmen. Und es freut mich einfach, zu sehen, dass es tatsächlich funktioniert und wir so erfolgreich sind.“