Experiment Blindflug
Von Geri Winkler / http://www.winklerworld.net/
Der Freestyle Libre hat in den letzten Jahren das Leben vieler Diabetiker revolutioniert. Ich wollte ihn diesmal im Urlaub für eine besondere Aufgabe nutzen: das Testen und Trainieren meines "inneren CGMs", meines Körpergefühls. Früher waren solche Tests auf punktuelle Messungen beschränkt, jetzt kann ich sie mit einer durchgehenden Kurve auswerten. Der Deal: ich setze einen Sensor, die Werte bekomme ich aber nicht zu Gesicht. Diese liest meine Frau aus und notiert sie, daneben wird mein geschätzter Wert notiert. Gelegentlich wird, für mich auch verborgen, blutig gemessen. Nur bei Werten über 300 mg/dl teilt sie mir diese mit. Tiefe Werte sind kein Problem, denn diese fühle ich sowieso. Ich spritze also eine variable Basis und variable BE-Faktoren, je nach Bewegung, ich korrigiere mit Insulin, wenn ich glaube, hoch zu liegen, esse, wenn ich eine Hypo fühle und spritze zum Essen nach Augenmaß, ohne je zu wiegen. 10 Tage will ich ohne Messwert bleiben.
Wozu das Ganze, wenn doch die moderne Technik eine lückenlose Überwachung des Diabetikerlebens ermöglicht? Meine großen Leidenschaften sind monatelange Rucksackreisen in alle Teile der Welt und Bergtouren, in den Alpen oder auch weit draußen. Geringes Gepäck und Unabhängigkeit von sensibler Technik ist dabei ein Muss, und damit bleibt nur der Pen und die blutige Messung. Aber selbst das BZ-Messen ist oft über viele Stunden unmöglich. 8 Stunden auf Frontalzacken in einer steilen Eiswand oder 12 Stunden auf einer heillos überladenen Ladefläche eines Pickups auf den Pisten Westafrikas - keine Chance zum Messen. Ich muss meinen Diabetes fühlen und froh sein, wenn ich im Bedarfsfall gerade noch den Pen setzen oder einen Schoko-Riegel verdrücken kann.
Das Experiment
Gleich am 1. Tag droht das Experiment zu kippen. Am frühen Abend teilt mir meine Frau mit, dass da 316 auf dem Display steht, und ich habe keine Ahnung warum. Wie sich nach den 10 Tagen herausstellt, hatte ich den ganzen Tag gute Werte, diese auch recht gut geschätzt, und dann nach einer Jause mit ausreichend Insulin dieser BZ-Gipfel! Ist das Insulin nicht angekommen? Großes Fragezeichen! Zum Glück sollte dies das einzige Desaster während der 10 Tage bleiben.
Salzkammergut-Urlaub, an den meisten Tagen mache ich gemütliche Bergtouren, 2-3 Stunden, 8-10 km, 300-500 Höhenmeter. Bei solch kleinen Touren brauche ich die Basis nicht zu reduzieren und auch keine Sport-BEs. Nur bei schweren, ganztägigen Touren muss ich meine Dosis anpassen, eher die BE-Faktoren, weniger die Basis.
Am 4. Tag steht eine richtige Bergtour an: 8 Stunden, 1500 Höhenmeter im Auf- und Abstieg, teilweise ausgesetzt, ich bin allein unterwegs. Wie soll das ohne Messwerte klappen? Ich halte mich an mein bewährtes Schema bei Berg- und Radtouren. Nach dem Frühstück geht's los. Da sollte der Wert bei 150-160 mg/dl liegen. Normalerweise messe ich das, heute schätze ich es. Etwa alle eineinhalb Stunden mache ich Pause und verspeise 2 BEs. Die ersten 2 BEs sind "gratis", dh. kein Insulin, alle weiteren BEs insuliniere ich mit dem halben BE-Faktor. Die altbewährten Algorithmen klappen auch heute bestens, einer der wenigen Tage, an denen ich vollzeitig in der TIR (70-180 mg/dl) bleibe. Beim Abstieg wähle ich einen kaum begangenen Pfad. Manchmal richtig unheimlich - total zugewachsen, steiles Gelände, umgefallene Bäume versperren den Weg, Handy-Netz gibt es natürlich auch nicht und niemand weiß, dass ich diesen Weg gewählt habe. Hier sollte nichts passieren, da kommt tagelang niemand vorbei. Trotzdem fühle ich mich sicher, ich habe Insulin und Kohlehydrate. Die Schätzfehler betragen an diesem Tag im Schnitt 13% (was ich natürlich erst am Ende der 10 Tage erfahren habe), mit 87 mg/dl beende ich die Tour, am Abend verringere ich die einmal täglich fällige Basis um 15% und komme gut durch die Nacht.
Fazit
Trotz mancher gewaltiger Schätzfehler bin ich recht gut durch die 10 Tage gekommen. Der mittlere BZ-Wert betrug 124 mg/dl (0-6 Uhr: 94, 6-12 Uhr: 118, 12-18 Uhr: 140, 18-24 Uhr: 146). Ich muss zugeben, dass ich bei normalem Messen und Ablesen schon oft schlechtere Durchschnittswerte als 124 mg/dl hatte. Ist es dieses bewusste "Auf-mich-schauen" und "In-mich-hineinhören", das Achten auf die Mundschleimhaut, die viel über die Höhe des BZ erzählt - ist diese Aufmerksamkeit dem eigenen Körper gegenüber tatsächlich genauso hilfreich wie ein digitaler Wert, der Klarheit für den Moment schafft? Ja, ich habe mich des Öfteren gründlich verschätzt. Was mich dabei überrascht hat: Habe ich mich im Wertebereich 100-200 mg/dl verschätzt, so hat das kaum negative Folgen für die weitere Entwicklung der BZ-Werte gehabt. Sie haben sich trotz Verschätzen wie von selbst wieder im Normbereich "eingerenkt".
61% der Zeit war ich in der TIR, 18% war ich drüber, 21% war ich drunter, wobei ich dem Libre bei tiefen Werten oft nicht wirklich trauen kann, wie gelegentliche Werte aus blutiger Messung nachträglich bewiesen haben. Natürlich sind das keine Musterschüler-BZ-Werte. Ich bin aber trotzdem zufrieden, autark, nur mit Insulin eineinhalb Wochen gut über die Runden gekommen zu sein. Wie in den alten Zeiten vor der Selbstmessung - nur mit dem Unterschied, dass ich mit der ICT keine Diät einhalten muss und auch spontan Sport ausüben kann. Im Notfall reicht es, Insulin und BEs bei mir zu haben, sonst nichts - das bedeutet Freiheit für mich, weil ich nichts im Leben auslassen muss. Ich bin dankbar, dass die Diabetes-Forschung so viele Hilfsmittel entwickelt hat, und ich bin dankbar, dass es auch ohne geht, wenn's denn notwendig ist.
Wo ich trotz allem nicht auf gemessene Werte verzichten möchte
Beim Klettern will ich meinen BZ kennen, mit dem ich in die Wand einsteige. Und er soll 150+ mg/dl betragen. Beim Tauchen ist es nicht anders. Da achte ich ganz genau drauf, dass ich nicht unter 200 mg/dl, aber auch nicht über 230 mg/dl abtauche. Trotz Süßmilch-Tube im BCD will ich es da unten nicht zu einer Hypo kommen lassen.
alle Fotos: privat