„Erkennst Du mich?“
Eines nachts entglitt der Blutzucker unerklärlich in ungeahnte Tiefen.
Von Peter Illetschko
Als ich langsam wieder zu mir kam, hatte ich das Gefühl, inmitten eines Albtraums gefangen zu sein. Ich saß am Boden des Schlafzimmers im Haus am Land, vor mir ein Notarzt, ein Sanitäter. Ich war verschwitzt, meine Frau saß neben mir, umarmte mich, versuchte mich verzweifelt zu beruhigen. Was war geschehen? Ihr Sohn aus erster Ehe, jung, groß, kräftig, freiwilliger Ersthelfer beim Roten Kreuz, stand vor mir und sagte: “Peter, erkennst Du mich?” Mir war so, als hätte ich diese Frage schon mehrere Male gehört, auch, als ich noch völlig weg war. “Peter, erkennst Du mich?” Und dann wieder: “Peter!” In den nächsten Minuten hörte ich, dass ich wie wild um mich geschlagen und geschrien hatte, offensichtlich sei der Zuckerspiegel in den Abgrund gestürzt. Man konnte mich zunächst weder festhalten noch munter kriegen. Als Diabetiker weiß ich, das kann passieren, aber ich weiß auch, das dürfte nicht passieren. Das Gehirn toleriert häufigen oder lang andauernden Glukosemangel nicht, es kann zu weitreichenden Schädigungen kommen. Man kann aber auch mit einem blauen Auge davonkommen.
Der hypoglykämische Schock zeigt sich für Laien wie ein epileptischer Anfall: Die Muskeln zucken, der Körper verkrampft sich, man schwitzt, Beine, Arme, Oberkörper, Kopf führen zitternde, teils ruckartige Bewegungen aus. Ich hatte, wie man mir sagte, die Augen weit aufgerissen, gerade so als hätte ich Todesangst. Für meine Frau und ihren Sohn muss das ein Moment absoluter Überforderung gewesen sein. Wer ist schon gewappnet, dass der Partner eines nachts derart entgleitet? Ja, entgleiten ist das richtige Wort. Für mich fühlte sich der Schock wie der Kampf gegen das Abrutschen in ein großes Loch an. Ein böser Traum, das Abgleiten ins Nichts, das schaurige Gefühl, dass ich mich nirgends erfolgreich festhalten kann, fast wie ein entkräfteter Bergsteiger, der kein Seil mehr hat, um den Absturz zu verhindern.
In der Realität gab es das ideale Werkzeug, um nicht abzustürzen. Ein anderer freiwilliger Ersthelfer vom Roten Kreuz hatte mir eine Glucose-Infusion gegeben. Auch dabei soll ich mich gewehrt haben. Zu dritt haben sie es dann geschafft. Zu dritt! Also habe ich wohl wirklich um mich geschlagen. Aber: Ich und um mich schlagen? Bin das ich? Nein, das will ich nicht sein. Hab‘ ich jemanden verletzt? Nein. Ich entschuldigte mich dennoch, es war mir peinlich. Wie konnte mir so etwas nach so vielen Jahren Typ 1 Diabetes passieren? „Kein Problem“, hörte ich beschwichtigend. Der Arzt meinte dann dennoch bestimmt: “Wir müssen ihn einweisen!” Wie das klang! Es klang wie „Einer flog über das Kuckucksnest“. Der Film von Milos Forman ist mir in bleibender Erinnerung, er hat ein bestimmtes Horrorbild der Psychiatrie in mir geformt. Habe ich so schlimm randaliert? “Nervenklinik?“ fragte ich also leicht verwirrt. “Aber nein”, beruhigte man mich lächelnd, “in die interne Abteilung des nächsten Spitals zur Beobachtung für eine Nacht.” Trotzdem: Das wollte ich nicht.
Plötzlich kam mir wieder Corona in den Sinn, dieses leidige Thema Nummer 1, das vermaledeite Virus, das uns alle schon so sehr beansprucht hat. Ich dachte an die unzähligen Berichte über Menschen, die sich wohl erst im Spital angesteckt hatten, und bat dringend darum, zu Hause bleiben zu dürfen, und versprach am nächsten Tag zum Arzt zu gehen.
All das geschah im November 2020. Der Tiefpunkt eines Jahres, das nur wenig Höhepunkte zu bieten hatte, obwohl es so wunderbar, entspannt und voller Vorfreude begann. In dieser Nacht im November 2020 habe ich eingesehen, auch ich bin wohl einer aus der Gruppe, die sie vulnerabel nennen. Dieses kalte, technische Wort für eine zutiefst menschliche Eigenschaft, nicht mehr bei 100 Prozent zu sein, ob nun durch eine Erkrankung wie Diabetes oder durch fortgeschrittenes Alter. Vulnerabel! Können Sie nicht verwundbar, verletzbar sagen? Das Wort hämmerte am kommenden Tag in meinen Gehörgängen wie ein pochender Schmerz; Vulnerabel, vulnerabel. Ich habe seit 20 Jahren Typ-1-Diabetes, weil die Insulin-produzierenden Inselzellen der Bauchspeicheldrüse von meinem überschießenden Immunsystem angegriffen und zerstört wurden. 38 Jahre alt war ich damals, dachte, was kostet die Welt, und war mit der Diagnose von heute auf morgen am Boden der Realität. Ab dann hörte ich nur: Damit kann man, wenn man gut eingestellt ist, also stabile Zuckerwerte hat, sehr alt werden und ein glückliches, halbwegs gesundes Leben führen. Und ich setzte meinen ganzen Ehrgeiz daran, genau das zu erreichen. Und jetzt sollte ein Virus mir dieses Lebensplan zunichtemachen? Sicher nicht.
Wie verhindert man eine Schreckensnacht wie diese? So abgedroschen es in einer langen Diabetiker-Laufbahn auch sein mag: Man muss darauf achten, was, wie viel und wann man es isst, man muss regelmäßig messen, schafft sich nach Rücksprache mit dem Diabetologen ein Messsystem mit automatischem Unterzucker-Alarm an (man kann ihn nicht überhören) und versucht, Alltagsstress nicht zu nahe an sich heranzulassen. Das alles ist leicht gesagt, es ist eine lebenslange Übung.