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Eine Armee namens „Immunsystem“

Warum sich Immunzellen an manche Feinde im Körper ein Leben lang erinnern – und andere vergessen…

Jede Sekunde wird unser Körper rund 30 Mal von feindlichen Erregern attackiert. Ob er dieses Trommelfeuer überlebt, steht und fällt auch mit der Frage, wie gut er sich an alte Feinde erinnern kann.

Es ist ein schwarzer Tag in der Geschichte der Färöer-Inseln. Am 28. März 1846 geht in Torshavn ein Tischler von Bord eines Segelschiffs – er hat den Tod im Gepäck: die Masern. Nach wenigen Tagen sind mindestens 6100 der 7900 Bewohner an dem Virus erkrankt, mehr als hundert Menschen gestorben. Die Einzigen, die überraschenderweise vor dem hochansteckenden Virus verschont bleiben, sind die vermeintlich Schwächsten: Menschen über 70 Jahre. Nur sie verfügten über eine damals unbekannte Immunzelle, die sich an den Erreger erinnert. Jüngere Menschen dagegen scheinen diesen Zelltyp, der den Körper gegen die Masern immunisiert, nicht zu besitzen.

Zwar sehen Mediziner in dieser neu entdeckten Abwehrstrategie ein Werkzeug, um die meisten Infektionskrankheiten und sogar Krebs auszurotten. Doch dafür muss man zunächst verstehen, warum sich diese Immunzellen an manche Erreger ein Leben lang erinnern – und andere vergessen…

Das Atemluft-Dilemma: 10.000 Bakterien und 100.000 Viren pro Atemzug

Damit ein erwachsener Mensch nicht erstickt, muss er pro Stunde etwa 800 Liter Luft einatmen. Das Problem: Im Schnitt nimmt er dabei auch 10 000 Bakterien und 100 000 Viren in sich auf. Ein niemals endender Angriff auf unsere Gesundheit, den unser Organismus nur dank jener komplexen Verteidigungsarmee überlebt, die wir als „Immunsystem“ kennen.  Diese Phalanx des Körpers, die sowohl gegen Eindringlinge von außen (Bakterien, Viren, Pilzen, Parasiten), als auch gegen verräterische maligne (Tumor-)Zellen vorgeht, unterteilt sich, vereinfacht gesagt, in einen angeborenen (unspezifischen) und einen erlernten (spezifischen) Bereich. Zur angeborenen Immunabwehr zählen etwa mechanische Abwehrsysteme gegen Keime wie Schleimhäute, die Flimmerhärchen in unseren Bronchien, Tränen oder unsere Haut. Der erlernte Teil der Körperabwehr dagegen antwortet immer mit einer spezifischen, auf den Erreger abgestimmten Immunantwort. Dabei spüren zum Beispiel T-Helferzellen Eindringlinge auf und markieren sie. In der Folge treten nahezu unbesiegbare T-Killerzellen auf den Plan – und zerstören die Gefahrenquellen mit einem chemischen Kampfstoff, während B-Zellen Antikörper produzieren. Ist eine Infektion überstanden, wird es interessant: Nun durchlaufen einige der T- und B-Zellen eine faszinierende Metamorphose. Sie verwandeln sich in „Gedächtniszellen“ und legen sich im Körper auf die Lauer. Greift jetzt der ihnen zugeordnete Erreger noch einmal an, aktivieren die Gedächtniszellen den bereits erprobten Abwehrplan neu.

Eine lauernde Zelle

Auf den Färöer-Inseln ist 1846 genau das eingetreten: Ein beinahe vergessener Masern-Ausbruch im Jahre 1781 hatte die über 70-Jährigen immunisiert. Medizinisch ist die Entdeckung der Gedächtniszellen der Ausgangspunkt für das moderne Impfwesen – und bis heute eines der größten Versprechen für die Zukunft. Das Problem: Mit der Zeit verlieren diese Zellen manchmal ihre Erinnerung und die Schutzfunktion der Gedächtniszellen nimmt ab oder geht verloren. Die Gründe dafür sind bislang weitestgehend unbekannt. Gelänge es aber, dieses Immunarchiv zu verstehen, könnten Gedächtniszellen im Labor z.B. künstlich vermehrt, transplantiert und umprogrammiert bzw. auf einen Erreger oder Krebstyp abgerichtet werden. Selbst ein medizinisches Verfahren, das das Absterben spezialisierter Gedächtniszellen verhindert, wäre nicht weniger als ein Game-Changer, da so theoretisch zahlreiche Impfungen nicht mehr aufgefrischt werden müssten. Manche Experten glauben sogar, dass mit einem Durchbruch in der Gedächtniszellen-Forschung alle Infektionskrankheiten, Autoimmunerkrankungen und die meisten Krebsleiden der Geschichte angehören würden. Wo liegt also das Problem?

Kann man das Immunsystem updaten?

Sicher weiss man eigentlich nur, dass Gedächtniszellen die Veteranen des Immunsystems sind. Nach der Schlacht gegen einen Erreger lagern sie in Blut und Gewebe und warten geduldig darauf, dass der Erreger wieder auftaucht. Darüber hinaus zeigen Studien, dass die Immunantwort bei einer Zweitinfektion mit einem bekannten Erreger nicht nur deutlich schneller, sondern auch 100-mal heftiger ausfällt. Dabei gilt: Das Immungedächtnis verhindert nicht, wie oft behauptet, eine Neuinfektion, sondern hilft, die Erreger so rasch zu bekämpfen, dass die Ansteckung unbemerkt bleibt und andere nicht angesteckt werden können.

Auch ein anderes Rätsel scheint gelöst: Wie hoch ist der sogenannte „Rekrutierungsgrad“ nach einer Infektion – also die Frage, wie viele der B- oder T-Zellen nach einer Infektion in Gedächtniszellen umgewandelt werden? Laut aktuellen Studien sind das nicht mehr als fünf Prozent. Wir wissen außerdem, dass sich Gedächtniszellen nicht nur im Blut, sondern auch in der Milz, in der Lymphe und im Gewebe auf die Lauer legen. Unbeantwortet bleibt allerdings nach wie vor die Frage, wie lange eine B- oder T-Gedächtniszelle und entsprechend die mit ihr verknüpfte Immunität gegen eine Krankheit in uns überlebt? Hintergrund: Virus ist nicht gleich Virus. Influenza-Impfungen beispielsweise müssen jährlich aufgefrischt werden. Masern dagegen können mit Gedächtniszellen ein Leben lang in Schach gehalten werden. Wie kann das sein?

Um das zu verstehen, muss man wissen, dass der Körper im Grunde nicht zwischen einer Impfung und einer echten Krankheit unterscheidet. Die Impfung simuliert sozusagen den Verlauf einer Infektion unter Echtbedingungen. Dazu verabreicht man dem Körper abgeschwächte Erreger: Das Immunsystem wird aktiviert, bekämpft die Eindringlinge – und legt für den Fall einer Rückkehr des Erregers spezialisierte Gedächtniszellen an, die sich an dessen Beschaffenheit und an Abwehrstrategien erinnern. Der Prozess funktioniert im Grunde wie ein Software-Update, das von außen und unter kontrollierten Bedingungen auf die DANN-Festplatte der Gedächtniszelle gespielt wird. Und je aktueller diese Daten insgesamt sind, desto besser ist ein Mensch geschützt.

Lange dachte man entsprechend, dass die so gewonnene Immunität gegen einen bestimmten Erreger anhält, bis alle auf den bestimmten Erreger spezialisierten Gedächtniszellen gestorben sind. Doch das ist nicht so. Neueste Studien zeigen, dass Gedächtniszellen in der Regel kürzer leben als die mit ihnen verknüpfte Immunität. Was im Umkehrschluss bedeutet, dass diese Immunarchive über eine Schülerschaft verfügen – und frische Erinnerungszellen nachrücken, wenn alte sterben. Das Problem: Niemand weiß bislang, wie das möglich ist – und entsprechend auch nicht, wonach sich die Dauer einer Immunisierung richtet…

Kann unser Körper Corona besiegen?

Eine andere wichtige Frage an unsere Gedächtniszellen lautet derzeit: Kann man gegen Covid-19 impfen? Die Datenlage ist widersprüchlich. Drei voneinander unabhängige Studien mit insgesamt 843 Probanden deuten etwa darauf hin, dass wir anders als befürchtet durchaus Gedächtniszellen nach einer Infektion aufbauen – und eine Impfung möglich ist. Dem widerspricht eine Veröffentlichung der Universität Hongkong, wonach Ende August erstmals eine Wiederansteckung mit Corona nachgewiesen wurde – viereinhalb Monate nach der Erstinfektion. Doch was nach einer Hiobsbotschaft klingt, ist paradoxerweise eigentlich eine gute Nachricht. Dass sich das Virus so schnell verändert, bedeutet, dass es unter einem erheblichen Selektionsdruck steht. Das Virus wird dadurch immer schwächer und der Mensch immer mehr immun gegen den Erreger – auch wenn es keine messbaren Antikörper im Blut gibt. Und das könnte der Anfang vom Ende dieser Pandemie sein.

Die STREITMACHT des Körpers

Um die Scharen feindlicher Erreger abzuwehren, nutzt unser Körper ein zweigeteiltes Abwehrsystem. Der angeborene Teil des Immunsystems besteht vor allem aus unspezialisierten Immunzellen und mechanischen Abwehrsystemen. Bestes Beispiel ist unsere Haut, die nicht nur verhindert, dass unser Körper austrocknet (ohne Haut würden wir pro Tag rund 20 Liter Körperflüssigkeit per Verdunstung verlieren), sondern sozusagen als vorderste Frontlinie mit Hilfe einer ganzen Armada aus Säuren, Enzymen und Schleimstoffen feindliche Mikroben in Schach hält. Die Strategien des erworbenen. Spezifischen Immunsystems sind dagegen in der Regel erheblich langsamer – dafür aber wirkungsvoller und komplexer. Bevor es zu einer speziellen Immunantwort kommt, werden Eindringlinge zunächst präzise identifiziert – und dann mithilfe einer auf diesen speziellen Erreger angepassten Reaktion (z.B. in Form von exakt modellierten Antikörpern) unschädlich gemacht. In diesem Sinne funktioniert das spezifische Immunsystem nach einem Veteranenprinzip. Das heißt, es wird mit der Zeit immer effektiver und zuverlässiger. Grundsätzlich dauert es etwa 1000 Tage, bis das spezifische Immunsystem funktioniert.