Ein Trend aus den USA: Prädiabetes ist eine Krankheit - oder doch nicht?
Von Peter Illetschko
Wissenschaftler und Ärzte erklären: Körpereigenes Insulin kann Kohlenhydrate aus der Nahrung nicht in Energie umwandeln, die Patienten haben unbehandelt zu hohe Zuckerwerte im Blut, die Moleküle lagern sich in Gefäßen ab und können sie schädigen. Das zeigt sich schon vor der Erstdiagnose Diabetes in einem erhöhten Hba1c, das sind erhöhte Blutzucker-Durchschnittswerte, in verringerter Empfindlichkeit für das körpereigene Insulin und in vielen Fällen auch am Übergewicht. Letzteres ist leicht festzustellen. Aber wer lässt schon Zuckerwerte und Insulinresistenz kontrollieren, ohne dazu einen unmittelbaren Anlass zu sehen.
Wann ist der Hba1c erhöht? Für die Österreichische Diabetes Gesellschaft (ÖDG) schon ab 5,7 - zwischen 5,8 und 6,4 habe man ein erhöhtes Risiko, an Diabetes zu erkranken. Der manifeste Diabetes muss ab 6,5 Hba1c festgestellt werden. Wann kann man Übergewicht? Ein Standard zur Berechnung ist nach wie vor der Body-Mass-Index - Entsprechende Rechner gibt es im Web viele. Misst man zum Beispiel als 57-jähriger Mann 1,92 Meter Körpergröße, sollte man idealerweise unter 100 Kilo haben. Wer gut trainiert ist und mehr wiegt, sollte nicht panisch werden: Der Muskelanteil wird hier wohl überwiegen. Wichtiger als die Kilos ist der Bauchumfang, denn hier angesetztes Fett ist besonders gefährlich - und wurde schon oft mit verstärktem Auftreten von Herz-Kreislauferkrankungen und Krebs in Verbindung gebracht. Bei Männern sollte der Bauchumfang unter 94 liegen, bei Frauen unter 80.
Konfrontiert mit dieser komplexen Gemengelage an Fakten, haben viele US-amerikanische Ärzte das Problem nur schlecht an die Öffentlichkeit gebracht, schreibt Charles Piller im Fachmagazin “Science” im vergangenen Frühjahr. Sie konnten Begriffe wie “erhöhter Nüchternblutzucker” oder “gestörte Glukosetoleranz” nicht verständlich vermitteln, das Gesundheitsrisiko wurde unterschätzt. In der American Diabetes Association (ADA) suchte man im Jahr 2001 daher verzweifelt nach einer Möglichkeit, das Problem sprachlich angreifbarer zu machen und erfand das Wort “Prädiabetes” - schnell wurden sperrige Umschreibungen in den Unterlagen ersetzt. Heute ist daraus ein Modebegriff geworden. Wissenschaftler verwenden ihn, um ihren Forschungen einen Stempel aufzudrücken, der den Geldgebern gefällt. Laut der Plattform “EurekAlert!” sind im Juli 2019 allein dreißig Paper zu diesem Thema erschienen. Darunter eine japanische Studie, die die ersten Anzeichen von Prädiabetes bereits zwanzig Jahre vor der Manifestation der Erkrankung sieht.
Ist jemand mit Prädiabetes aber wirklich krank? Waren die Probanden in besagter Studie also schon 20 Jahre lang krank? Europäische Ärzte warnen davor, in dieser Kategorie zu denken. Die Pharmabranche jedenfalls freut sich, schreibt Piller in seinem Text, der ins Deutsche übersetzt den Titel hat: Prädiabetes könnte ein Segen für die Pharmabranche sein - aber ist es gute Medizin?” Und er meint weiter: Die Industrie sei dabei, zehn Klassen von Medikamenten gegen Prädiabetes zu entwickeln, für den Fall, die ersten und wichtigsten Maßnahmen fruchten nicht: Ernährungsumstellung, mehr körperliche Fitness aufbauen.
2013 schlug die ADA sogar vor, Diabetes-Medikamente gegen den Prädiabetes einzusetzen, obwohl diese dafür nicht zugelassen sind. 2019 verkündete sie, dass auch Medikamente gegen Übergewicht eingesetzt werden könnten. Die Frage der Nebenwirkungen sei aber laut Piller ungeklärt. Der Autor kommt zur Conclusio: Der Vorbeugungsgedanke sei am Patientenbedürfnis vorbei zu weit getrieben worden und habe keine signifikanten Verbesserungen insgesamt gebracht: die Epidemie Diabetes schreite weiter voran.
Link: https://www.sciencemag.org/news/2019/03/war-prediabetes-could-be-boon-pharma-it-good-medicine