Ein Gefühl der Hilflosigkeit
Von Christina Pollmann
Es ist 3 Uhr früh, ich werde durch ein leises Wimmern munter. “Mein Mann hat wahrscheinlich einen schlechten Traum”, denke ich. In solchen Fällen hilft es, ihn sanft zu schubsen, doch diesmal zeigt es keinerlei Wirkung. Ganz im Gegenteil, das Wimmern steigert sich zu einem unverständlichen Gemurmel, seine Hände versuchen mich wegzuschieben - und immer noch denke ich an einen bösen Traum.
Plötzlich ist es weder ein Murmeln oder ein Wimmern, sondern vielmehr schreit er wie ein verletztes Tier und aus den Versuchen, mit wegzuschubsen, werden Schläge und Hiebe. Mit aller Kraft versuche ich, Peter aufzuwecken, aber vergeblich.
Er wehrt sich immer stärker, mittlerweile tritt er auch mit den Beinen in alle Richtungen. Angst steigt in mir auf, allerdings keine Sekunde um mich (auch wenn ich halb so schwer wie Peter bin, bin ich fest davon überzeugt, dass er mir nicht weh täte), sondern nur um ihn. So habe ich ihn noch nie erlebt. Seine unkontrollierten Zuckungen führen dazu, dass er sich an den Kanten des Nachttisches anhaut, ohne es wirklich zu bemerken.
Etliche Bücher, ein Glas und Traubenzucker fliegen durchs Zimmer. Ich springe auf und stürme zum Zimmer meines Sohnes. “Komm schnell, Peter hat was!” Binnen Sekunden ist Felix (2 Meter groß und kräftig und First Responder beim Roten Kreuz) an meiner Seite und gemeinsam versuchen wir, Peter, der mittlerweile am Boden liegt, zu halten. Er tobt - kein anderes Wort beschreibt seinen Zustand besser - und brüllt und ist dennoch nicht wirklich ansprechbar.
Ich suche sein Messgerät, aber wegen seiner hektischen Bewegungen ist eine genaue Messung nicht möglich. Mein Wissen, was bei einem Hypo zu tun ist, war zum damaligen Zeitpunkt nur, ihn mit Traubenzucker, Gummibären oder Cola zu versorgen. Natürlich oder besser gesagt zum Glück ist es mir nicht gelungen.
“Ruf den Notarzt”, ordne ich Felix an, der ohnehin schon das Telefon in der Hand hat. Ich versuche so gut es geht, Peter zu halten, damit er sich nicht noch mehr blaue Flecken zuzieht, als sich plötzlich eines seiner Beine unter dem Bett verkeilt. Ohne Nachzudenken hebt Felix das Bett auf und erklärt währenddessen dem Einsatzleiter die Situation. Wir kontrollieren Peters Atem und melden jeden Atemzug dem Mann in der Notrufzentrale. Ich versuche auf Peter einzureden und so gut wie möglich zu beruhigen. Sein Blick irrt durchs Zimmer, sehen oder erkennen kann er mich aber nicht. Ganz kurz läuft Felix zur Haustür, der erste Notfall Sanitäter steht bereit und meint nur: “Felix, was hast denn jetzt wieder angestellt?” Das ist einer der Vorteile am Land, man kennt sich und es muss nicht lange nach der Adresse gesucht werden.
Im Schlafzimmer angekommen erkennt der Sani sofort die Situation. Mit ruhiger Stimme übernimmt er das Kommando und erklärt uns, dass er Peter einen Zugang legen muss, damit er ihm Zucker verabreichen kann. Wir haben zu dritt alle Hände voll zu tun, um Peter so ruhig zu halten, damit der Zugang gelegt werden kann. Mit jedem Tropfen, der in seinen Körper fließt, kommen Peters Vitalzeichen wieder zurück, auch die Krampfanfälle werden leichter bis sie schließlich ganz aufhören. In der Zwischenzeit sind auch der Notarzt und ein zusätzlicher Krankenwagen eingetroffen.
Langsam kommt Peter zu sich, sieht sich im Zimmer um und wundert sich nicht nur, warum das Bett aufgestellt ist, sondern auch, warum so viele Leute im Zimmer sind. Er hat von seinem Anfall keine Erinnerung. Es dauert eine Weile, bis ihm bewußt wird, dass sich alles um ihn dreht, auch wenn er nicht weiß, was passiert ist. Mit ruhigen Worten erklärt ihm der Arzt die Situation, aber es ist ein Wort, das bei Peter die Alarmglocken schrillen lassen.: “Einlieferung”. Seine Befürchtung ist, dass er auf eine geschlossene Abteilung kommen würde, weil er randaliert habe.
Das Einzige was ich machen kann ist, Peter so gut es geht in Decken zu hüllen, da es durchs offene Fenster bei minus 12 Grad doch etwas frisch reinkommt.
Der Arzt lässt noch ein EKG schreiben und da das Ergebnis unauffällig ist, packt er seine Sachen zusammen. Wäre nicht Corona, würde er Peter aber zur Überwachung ins Spital mitnehmen. Ich verspreche dem Arzt, auf Peter aufzupassen und munter zu bleiben und bei den kleinsten Anzeichen sofort den Notruf zu wählen.
Auch die Sanitäter packen ihre Sachen zusammen und räumen das Feld. Felix richtet wieder die Möbel und während ich Peter ins Bett verfrachte, gilt seine größte Sorge Felix und mir, ob er uns weh getan habe. Das ist der Zeitpunkt, in dem ich weiß, dass es ihm besser geht.
Unter vielen Decken bleibe ich neben ihm wach und höre auf seinem Atem. Langsam wird er ruhiger, bis er schließlich vor Erschöpfung einschläft.
Zur selben Zeit (es ist 5 Uhr früh) bricht Felix auf, um an seinem freien Tag den freiwilligen Dienst beim Roten Kreuz anzutreten.
Am Abend, als er wieder heimkommt, nimmt er mich zur Seite und verrät mir, dass er große Angst hatte, Peter könne sterben. Dennoch hat er komplett ruhig und besonnen reagiert und dafür gebührt ihm ein großes DANKE.
Auch ich hatte enorme Angst, diese Machtlosigkeit und Hilflosigkeit, in der man sich in solch einer Situation befindet, nimmt einem wirklich mit.
Ich hoffe, dass Peter nie wieder so einen Schock bekommt, aber seit damals habe ich immer eine Zuckerpaste für Notfälle in meiner Handtasche mit.