Die verlorenen Kinder des Diabetes
Das Kind trinkt literweise, geht ebenso viel aufs Klo, ein klassisches Szenario, wenn bei Jugendlichen oder Kindern die Diagnose Diabetes gestellt wird. Von gleich auf jetzt verändert sich das Leben dramatisch. Zucker messen, Insulin spritzen, Broteinheiten, Tupfer, Klebebänder, Pumpen und deren Katheter oder Insulinpens samt den dazu gehörenden Ampullen. Es gilt, möglichst rasch viele neue Begriffe und Zusammenhänge verstehen zu lernen. Aber nicht nur die Technik mit Pumpen und Sensoren bringen Konfusion in den Alltag.
Vor allem die psychische Belastung, die einerseits den jungen Patienten zusetzt (Stichwort: „Warum ich?“) belastet andererseits auch Eltern, Geschwister und sogar Großeltern und andere Familienmitglieder. Beispiele gefällig?
Die Großeltern eines zehnjährigen Buben, der als zuckerkrank diagnostiziert wurde, erlaubten von da an nur noch Besuche der gesunden Schwester.
Ein Jugendlicher wurde von seinen Eltern arglistig getäuscht. Sie kündigten dem jungen Patienten den Aufenthalt in einem Feriencamp an. Die Vorfreude des Teenagers verwandelt sich abrupt in heftige Enttäuschung, als er herausfand, dass es sich um ein Schulungscamp für Diabeteskinder handelte.
Eine Jugendliche wurde – während sie auf einem Reha-Aufenthalt war – von der eigenen Mutter aus der Wohnung geworfen.
Eltern geben sich gegenseitig die Schuld an der Erkrankung des Kindes, Ehen gehen in Brüche und Geschwisterkinder werden sowohl benachteiligt, als auch bevorzugt. Dazu kommt noch die Veränderung im geschwisterlichen Verhältnis.
Doch was kann getan werden? Fest steht, dass von Seiten der Krankenversicherung zwar alles für die therapeutische Behandlung des Diabetes bereitgestellt wird, die Psyche der Betroffenen bzw. deren Familienmitgliedern den Sozialversicherern völlig egal ist. Denn nicht einmal ansatzweise ist im Leistungskatalog eine Übernahme von Kosten für eine Psychotherapie vorgesehen.
Im Klartext: egal ob ein pubertierende jugendlicher Typ-1-Diabetiker professionelle Hilfe braucht oder auch die Burn-Out-bedrohte Mutter – von der Sozialversicherung gibt´s dafür keinen einzigen Euro.
Mag. Dora Beer, Psychologin und selbst Mutter einer Tochter mit Diabetes
Die Diagnose Diabetes bringt das ganze Familiengefüge durcheinander. Sie stellt eine dauerhafte Belastung für das erkrankte Kind, aber auch für die Eltern und sogar die Geschwisterkinder dar.
Dabei gibt es natürlich Unterschiede beim Alter. Ein Kleinkind reagiert anders als ein Volksschüler oder ein pubertierender Teenager. Diese psychosozialen Belastungen liegen oft unter der Wahrnehmungsschwelle, ich glaube aber, dass in der Diabetes-Ambulanz für Kinder die Situation noch besser ist, als anderswo.
Es hängt natürlich von den Ressourcen ab, aber natürlich sind auch Eltern, die permanent mit der Situation überfordert sind, gefährdet, an einer Depression zu erkranken. Besonders Mütter sind da gefährdet. Sie stemmen oft den sehr großen Pflegeaufwand ganz alleine.
Auch Geschwisterkinder sind betroffen. Sie machen sich einerseits Sorgen um das erkrankte Kind aber andererseits können in den gesunden Kindern auch Fantasien entstehen, sie selbst hätten Schuld an der Erkrankung, z.B. weil die beiden miteinander gestritten haben.
Obwohl sich natürlich gerade nach der Diagnose alles um das erkrankte Kind und die damit verbundenen Lernprozesse dreht, darf natürlich das gesunde Kind nicht vernachlässigt werden. Auch dabei muss man den oft überforderten Eltern helfen. Es geht dabei auch um die weitest gehende Gleichbehandlung der Kinder. Ungerechtigkeiten kränken das gesunde Kind und sind auch für das Kind mit Diabetes nicht gut.
Die erste Anlaufstelle ist mit Sicherheit der behandelnde Arzt in der Kinderambulanz, er kann auf ein interdisziplinäres Team zurückgreifen, in dem auch unbedingt ein Psychologe und ein Sozialarbeiter dabei sein muss.
Tatsache ist aber, dass es viel zu wenig Angebot gibt und dass diese Leistungen nicht von der Sozialversicherung bezahlt werden.
Die Österreichische Liga für Kinder- und Jugendgesundheit fordert ebenfalls niederschwellige, kassenfinanzierte Angebote, um rascher und gezielter Interventionen zu setzen. Insgesamt – so die Ergebnisse einer Studie der Uni Wien und dem Ludwig Boltzmann Institut sind fast ein Viertel aller 10- bis 18jährigen von einer psychischen Erkrankung betroffen.
Wenn Familien keine Möglichkeit haben, bei psychischen Problemen ihrer Kinder kostenlose und rasche Hilfe zu bekommen, verleitet das zum Wegschauen, Bagatellisieren und Tabuisieren und verschlechtert den Verlauf der Problematik und oft auch der Erkrankung.
Der Berufsverband Österreichischer Psychologinnen fordert daher vehement die klinisch-psychologische Behandlung auf Krankenschein.
Die Erkrankung bietet aber auch Chancen. Man lernt neue Dinge, meistert neue Situationen und kann daraus natürlich auch Kraft schöpfen, Energie gewinnen und insgesamt daran wachsen. Aber wenn´s nicht gelingt, gibt es auch keine Schuldzuweisungen.
Die wichtigsten Tipps:
- Holt Euch Hilfe, wo immer man sie bekommen kann. In der Klinik, in Selbsthilfegruppen, in FB-Gruppen oder anderen Online-Foren, aber auch bei Freunden und Familienangehörigen.
- Wegen Diabetes streitet man nicht. Sachliche Diskussionen bei aktuellen Problemen sind ok, es dürfen daraus aber keine Untergriffe, Schuldzuweisungen oder Kränkungen entstehen.
- Keine Scheu vor Diabetes-Psychologen – eine Liste mit Spezialisten in ganz Österreich finden Sie hier im PDF
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