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Die Nutri-Score Falle: Viel heiße Luft mit wenig Wirkung

Der Nutri-Score soll Konsument*innen auf einen Blick Auskunft über den Gesundheitswert eines Lebensmittels geben. Die wissenschaftliche Datenlage zeigt jedoch: Der Nutri-Score hält nicht, was er verspricht.

Der Nutri-Score wird als Kennzeichnungssystem auf der Verpackung von Lebensmitteln beworben. Er soll Konsument*innen auf einen Blick Auskunft über den Gesundheitswert eines Lebensmittels geben und die Entscheidung für eine gesündere Wahl unterstützen. Die wissenschaftliche Datenlage zeigt jedoch: Der Nutri-Score hält nicht, was er verspricht. Experten fordern ein Bewertungssystem, dessen Wirksamkeit wissenschaftlich belegt ist.

Die Auswahlmöglichkeiten bei Lebensmitteln und Getränken sind heutzutage riesig. Vor überfüllten Supermarktregalen verliert man als Konsument*in schnell den Überblick. Ohne langwieriges Studieren der Zutatenlisten und Nährwerttabellen kann oft nur schwer beurteilt werden, welche Produkte die gesündere Wahl sind. Schon seit vielen Jahren gibt es daher den Vorschlag verpackte Lebensmittel mit einer einfachen, farbigen Kennzeichnung entsprechend der Ampelfarben zu versehen. Sogenanntes „Front-Of-Pack-Labelling“ (kurz: FOPL) – eine vereinfachte Nährwertkennzeichnung auf der Verpackungsvorderseite – soll auf einen Blick Auskunft über die Nährwertqualität eines Lebensmittels liefern und einen schnellen Vergleich verschiedener Produkte ermöglichen.

Rund um den Globus gibt es bereits verschiedenste Varianten einer solchen Kennzeichnung: Vom Health-Star-Rating in Neuseeland und Australien, über die Healthy-Choice-Kennzeichnung in Mexiko bis hin zum Keyhole-Symbol in den Skandinavischen Ländern. Der Nutri-Score ist ebenfalls ein solches Kennzeichnungssystem, das im Jahr 2017 in Frankreich ins Leben gerufen wurde. In der EU wird der Nutri-Score derzeit in Frankreich, Belgien, Deutschland, Luxemburg sowie den Niederlanden freiwillig eingesetzt. Aber auch in den heimischen Supermarktregalen finden sich immer wieder importierte Produkte mit dieser Kennzeichnung.

So funktioniert das Nutri-Score Bewertungssystem

Basierend auf einem speziellen Algorithmus werden für bestimmte Nähr- und Inhaltsstoffe Punkte vergeben: Energie, Gesamtzucker, gesättigte Fettsäuren und Natrium (Salz) erhöhen die Gesamtpunktezahl. Proteine, Ballaststoffe sowie der Anteil an z.B. Obst und Gemüse verringern die Gesamtpunktezahl. Je niedriger am Ende die Gesamtpunktezahl eines Produktes, desto besser ist das Nährwertprofil und damit die Nutri-Score Bewertung. Optisch wird das Ergebnis durch Buchstaben kombiniert mit entsprechenden Ampelfarben (A/dunkelgrün für beste Bewertung, B/hellgrün, C/gelb, D/orange, E/rot für schlechteste Bewertung) dargestellt.

Kein gutes Zeugnis aus der Wissenschaft

„Konsument*innen sind beim Einkauf einer Flut von Werbebotschaften und Ernährungsinformationen ausgesetzt. Daher ist es äußerst wünschenswert, mit einer einfach zu verstehenden Kennzeichnung auf Lebensmittelverpackungen bei der Auswahl im Supermarktregal zu unterstützen. Dafür braucht es aber ein Kennzeichnungssystem, dessen Wirksamkeit belegt ist. Es muss also Konsument*innen dazu bewegen zum gesünderen Produkt zu greifen.“ appelliert Univ.-Prof. Prim. Dir. Dr. Friedrich Hoppichler, Vorstand des präventivmedizinischen Instituts SIPCAN und Ärztlicher Direktor des öffentlichen Krankenhauses der Barmherzigen Brüder in Salzburg.

SIPCAN hat daher über einen Zeitraum von über einem Jahr die derzeit zur Verfügung stehenden Studien zum Nutri-Score geprüft und in einem Dokument zusammengefasst (Download unter www.sipcan.at/wissenschaft). Die Erkenntnis: „Die wissenschaftliche Datenlage zum Nutri-Score zeigt ein völlig anderes Bild als häufig in der Öffentlichkeit dargestellt. Denn die Ergebnislage zur Wirksamkeit und Anwendbarkeit in der Praxis ist viel schlechter als bisher angenommen.“ so Studienleiter Dr. Manuel Schätzer von SIPCAN.

Wirksamkeit gering – das sind die größten Kritikpunkte

  • Da wir tendenziell immer mehr konsumieren und die Portionsgrößen in den letzten 30 Jahren auch erheblich zugenommen haben, ist die Portionsgröße ein wichtiger Faktor für eine gesunde Ernährung geworden. Der Nutri-Score wird aber unabhängig von der üblichen Portionsgröße immer für 100 g oder ml eines bestimmten Produkts berechnet. So können 100 g einer Pizza mit einem grünen A bewertet sein, man isst aber eine ganze Pizza, also 400 g. Gleichzeitig werden 100 g Ketchup mit einem roten E bewertet, es werden üblicherweise aber nur rund 20 g davon konsumiert. Die verzehrte Menge eines Produktes beeinflusst also maßgeblich die aufgenommene Menge an Nährstoffen.
  • Hinzu kommt, dass der Nutri-Score nur für den Vergleich innerhalb einer Produktgruppe gedacht ist, also z.B. verschiedener Frühstückscerealien. Ob die Konsument*innen im Supermarkt naturbelassene Nüsse mit einem orangen Nutri-Score D, die bei angemessener Portionsgröße aber eigentlich als gesundheitsfördernd zu bewerten sind, tatsächlich nicht mit einem Fertiggericht mit grünem Nutri-Score B vergleichen, muss bezweifelt werden.
  • Durch die Bewertung mit dem Nutri-Score soll auch ein Anreiz für die Lebensmittelindustrie geschaffen werden durch Reformulierungen gesündere Produkte herzustellen. Die Datenlage zur Erreichung dieses Zieles ist äußerst stark begrenzt. Die meisten Studien beschreiben nur eine theoretische Hochrechnung des Potentials. In lediglich einer Studie zur tatsächlichen Verbesserung von Rezepturen bei Frühstückscerealien konnte ein Anstieg an Produkten in den Nutri-Score-Bewertungsgruppen A und B gemessen werden, dieser erfolgte in Summe aber nur um 2,6 %-Punkte (von 34,5 auf 37,1 %).

Ein neuer Anstrich ist nicht die Lösung!

Zu den bestehenden Kritikpunkten kommt noch hinzu, dass das Berechnungssystem des Nutri-Scores derzeit überarbeitet wird. Diese Aktualisierung soll das aktuelle Bewertungssystem verbessern, verursacht aber gleichzeitig auch, dass die Konsument*innen mit veränderten Produktbewertungen konfrontiert sein werden. Diese Verunsicherung der Verbraucher*innen wird nochmals durch die völlige Intransparenz der Produktbewertungen verstärkt. Denn nach wie vor ist für niemanden einsehbar, warum genau ein spezielles Lebensmittel im Supermarktregal einen bestimmten Nutri-Score erhält.

Als positiv bewertet werden kann, dass im Zuge der Aktualisierung des Nutri-Scores nun auch erstmals Süßstoffe als negativer Faktor in die Bewertung von Getränken integriert werden. Das ist sehr wünschenswert, zumal sich auch die WHO aufgrund der erdrückenden Datenlage mit einer neuen Leitlinie gegen die Verwendung von Süßstoffen ausspricht. Warum dies im Rahmen der Aktualisierung des Nutri-Scores nicht auch bei allen anderen Lebensmittelgruppen berücksichtig wird, ist aus wissenschaftlicher Sicht aber als sehr kritisch anzumerken.

In Fachkreisen wird immer wieder betont, dass der Nutri-Score das am besten untersuchte „Front-Of-Pack-Labelling“-System sei. „Umso wichtiger ist es öffentlich klarzustellen, dass seine Wirksamkeit nicht wissenschaftlich belegt ist. Im Interesse des Verbraucherschutzes müssen in den nächsten Jahren bessere Erkenntnisse gewonnen werden, um ein tatsächlich wirksames Kennzeichnungssystem zu entwickeln, das Verbraucher*innen bei ihrer Lebensmittelauswahl für eine gesündere Ernährungsweise unterstützt.“ so der Ernährungswissenschafter Manuel Schätzer. Dies ist mit dem Nutri-Score zum jetzigen Zeitpunkt offensichtlich nicht möglich. „Bis ein passendes Kennzeichnungssystem entwickelt wurde, ist es immer noch am sinnvollsten die Nährwerttabellen und Zutatenlisten auf den Produktverpackungen zu vergleichen.“ betont Internist Hoppichler.

Das gesamte Dokument zum Nutri-Score steht zum Download auf Website von SIPCAN zur Verfügung:

www.sipcan.at/wissenschaft

(SIPCAN, Im Fokus: Der Nutri-Score. Update Mai 2023.)