Skip to main content

Diabetiker setzen immer mehr auf Schwarmintelligenz*

Die klassische Selbsthilfe, wie sie seit Jahrzehnten betrieben wird, leidet nicht nur unter natürlichem Mitgliederschwund, sondern zieht vor allem junge Diabetiker kaum an. Vor allem diese, aber auch ältere Semester setzen auf das Wissen im Netz – Ärzte sehen das als nicht unkritischen Trend.

BERLIN/WIEN (red 01.03.19). Wie ändert sich die Stellung des Diabetespatienten durch die voranschreitende Digitalisierung – und was heißt das für Ärzte, Hersteller von Medizinprodukten und Selbsthilfe? Diese und weitere Fragen diskutierten Experten anlässlich der DiaTec 2019.

In Deutschland gibt es rund sechs bis sieben Millionen Diabetespatienten, in Österreich sind es – je nach Schätzung – 600.000 bis 800.000 Personen. In den vier wichtigsten deutschen Selbsthilfeorganisationen, die sich im März 2018 lose zur „Diabetiker-Allianz“ zusammengeschlossen haben, sammelten sich in Summe jedoch nur 40.000 Mitglieder, so Nicole Mattig-Fabian, Geschäftsführerin von Diabetes.de. Ähnlich die Situation in Österreich: in den landesweiten Organisationen ADA und ÖDV sind etwa 4000 Mitglieder eingeschrieben.

Existiert kein Bedarf an Austausch bei Diabetespatienten?

Natürlich schon. Nur scheint die klassische Selbsthilfe für viele Patienten nicht attraktiv zu sein. „Viele Betroffene finden allein schon das Wort Selbsthilfe altmodisch“, sagte die deutsche Diabetes-Bloggerin Lisa Schütte, die seit ihrem zehnten Lebensjahr an Typ-1-Diabetes leidet. „Was viele vor Augen haben, ist ein Bild betagter Menschen, die sich im Stuhlkreis über Probleme beschweren.“ „Berufstätige, aber auch Schüler und Studenten haben kaum Zeit sich regelmäßig zu treffen oder sind nicht bereit, dies ausschließlich wegen ihrer Erkrankung zu tun“, weiss Peter P. Hopfinger von Diabetes Austria, der ältesten Online-Plattform für Menschen mit Diabetes, die bereits 1995 online ging.

Mittlerweile haben die sozialen Medien wie Facebook, Instagram und Whatsup enorm an Bedeutung gewonnen. Während die klassische Selbsthilfe nur begrenzt Patienten in die Waagschale werfen kann, um politisch Druck auszuüben, haben die rund einhundert Diabetesblogs in Deutschland regelmäßig eine fünfstellige Zahl an Followern. Manche liegen sogar im sechsstelligen Bereich – eine der wichtigsten deutschen Facebook-Gruppen zum Typ-1-Diabetes habe 18.000 Mitglieder, so Schütte. Zum Vergleich Österreich: www.facebook.com/diabetesaustriahat mehr als 5.600 Follower, www.diabetes-austria.com wird von rund 30.000 Personen monatlich besucht und gemeinsam mit den Aktivitäten der Aktiven Diabetiker Austria, der Österreichischen Diabetiker Vereinigung ÖDV und der steirischen Kindergruppe Diabär versammeln sich rund 20.000 Menschen in den sozialen Netzwerken. Da gibt es beispielsweise die Bloggerin Anna Pintsuk, die englisch auf einem Instagram- Account  postet und mehr als 5.000 Follower aus der ganzen Welt hat. Oder der ehemalige Präsident der ÖDV, Josef „Diab-Joe“ Meusburger, der in mehreren Facebook-Gruppen Nachrichten aus der Welt des Diabetes postet.

Wenn eine neue Pumpe auf den Markt kommt, dauert es keine halbe Stunde, bis die diskutiert wird

Und Instagram sowie Twitter würden von Diabetespatienten „massenhaft“ genutzt. Die Gründe für die starke digitale Präsenz der Diabetespatienten sind vielfältig. Die Community gebe Geborgenheit und ermögliche gleichzeitig eine gewisse Anonymität.

Vor allem aber sei sie schnell: „Wenn eine neue Pumpe auf den Markt kommt, dauert es keine halbe Stunde, bis die diskutiert wird“, so Schütte. Und auch wer kurzfristig Tipps brauche, wie sich die Pumpe beim Feiern am besten verstecken oder der Glukosesensor am Strand sicher fixieren lasse, komme an digitalen Medien nicht vorbei.

Nicole Mattig-Fabian plädierte vor diesem Hintergrund für eine Art konzertierte Aktion und für den Aufbau von Strukturen, in die sich traditionelle Selbsthilfe und Online-Patienten-Communities zumindest ansatzweise gemeinsam einbringen.

Gerade wenn es gelte, politische Initiativen wie die Nationale Diabetesstrategie mit Leben zu erfüllen, sei ein „Patientengesicht“ nötig, um berechtigte Patientenforderungen auch glaubhaft vorbringen und letztlich durchsetzen zu können.

Wie sehr die Digitalisierung Teil der Diabetesversorgung wird, zeigt sich auch an ganz anderer Stelle, nämlich bei den sogenannten Closed Loop Diabetes-Systemen, genauer Kombinationen aus kontinuierlicher Glukosemessung und Insulinpumpentherapie, bei denen eine Software die Abgabemenge der Pumpe steuert. Bislang ist in den USA lediglich ein einziges derartiges System auf dem Markt, in Europa noch keines.

Bauchspeicheldrüse in Eigenbau

Weil Industrie, Behörden und Diabetologie bei diesem Thema seit Jahren sehr zurückhaltend agieren, hat sich eine Diabetes-Subkultur gebildet: die sogenannten Looper. Diese „schalten“ existierende Messsysteme und Pumpen mit Open Source Software zusammen und nutzen damit eine automatische Bauchspeicheldrüse der Marke Eigenbau. Der Austausch darüber findet auf Instagram, Twitter oder in kleinen Whatsup-Gruppen statt.

Mittlerweile gebe es eindrucksvolle Fallberichte, die zeigten, wie sich durch solche Systeme zum Beispiel nächtliche Hypoglykämien vermeiden ließen. Das, so Bloggerin Schütte, sei eine andere und vielleicht sogar nicht weniger effektive Art, politischen Druck auszuüben.

Quelle: Philip Grätzel von Grätz/Ärztezeitung.de

 

Kollektive Intelligenz, auch Gruppen-oder Schwarmintelligenz genannt, ist ein Phänomen, bei dem Gruppen von Individuen durch Zusammenarbeit, unabhängig von der Intelligenz der einzelnen Mitglieder, intelligente Entscheidungen treffen können.