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Diabetesversorgung in Österreich – mangelhaft in guten wie in schlechten Zeiten

Ein Gastbeitrag von Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ludvik, Leiter der Diabetesabteilung in der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien.

In Österreich läuft in Sachen Diabetesversorgung Vieles nicht rund. Die aktuelle Coronakrise macht die Situation nicht besser, legt vielmehr bestehende Defizite offen – eine Analyse und ein paar Lösungsvorschläge von Prim. Univ.-Prof. Dr. Bernhard Ludvik, Leiter der Diabetesabteilung in der Krankenanstalt Rudolfstiftung in Wien.

Die adäquate medizinische Versorgung von Menschen mit Diabetes ist in Österreich weit von geforderten Standards entfernt. Während PatientInnen mit Typ-1-Diabetes, jener Form, welche vorwiegend im Kindes- und Jugendalter auftritt, fast ausschließlich in spezialisierten Zentren betreut werden, ist für die zahlenmäßig viel größere Gruppe der Typ-2- („Alters“-) Diabetiker die Allgemeinmedizin der erste Ansprechpartner. Dieser Versorgungsebene stehen dann gegebenenfalls Diabetesambulanzen zur Seite, falls Therapieziele nicht erreicht werden, komplexe Therapien angezeigt sind oder Spätschäden vorliegen. Organisiert ist dieses Vorgehen in einem sogenannten Disease Management Programm namens „Therapie Aktiv“. Hier sollten Allgemeinmedizin und Ambulanzen bzw. spezialisierte Krankenhausabteilungen Menschen mit Diabetes koordiniert und effizient betreuen.

Soweit die Theorie, aber wie sieht es in der Praxis aus?

Leider wird dieses System nicht angenommen, da es den KollegInnen im niedergelassenen Bereich an Unterstützung und Anreizen fehlt. Dies hat zur Folge, dass PatientInnen in der Regel weder zu Beginn ihrer Erkrankung geschult werden noch – bedingt durch die Komplexität der Erkrankung – nach dem neuesten Wissensstand behandelt werden. Dies wiederum führt zu einer hohen Anzahl an diabetesbedingten Komplikationen wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Dialyse und Amputationen.

Die EU-Kommission führt die Zunahme an diabetesbedingten Todesfällen in Österreich nicht nur auf die steigende Zahl an übergewichtigen und körperlich inaktiven Menschen zurück, sondern stellt der Diabetesversorgung insgesamt ein schlechtes Zeugnis aus („ …relative weakness of primary health care in Austria“; State of Health in the EU, Austria Country Health Profile 2019).

Sind also die niedergelassenen KollegInnen schuld?

Das wäre die falsche Schussfolgerung, denn es ist das Gesundheitssystem, welches mit den Entwicklungen in der Diabetologie nicht Schritt hält. Dazu zählen Faktoren wie verwirrende Finanzierungsströme, welche den niedergelassenen Bereich in Bezug auf die Betreuung von Menschen mit Diabetes schlecht honorieren und die PatientInnen in die Ambulanzen und Spitäler treiben, ein Erstattungskodex, der einer effizienten Therapie Hürden in den Weg stellt und die zunehmend komplexen Therapieformen.

Die ärztliche Beratungsleistung ist schlecht honoriert, außerdem verfügt der niedergelassene Bereich nicht über DiabetesberaterInnen und DiätolgInnen vor Ort, die für eine Schulung unerlässlich sind. Hinzu kommen die Fortschritte in der Diabetologie, welche dazu geführt haben, dass wir derzeit rein theoretisch über sieben verschiedene zugelassene Klassen von antidiabetischen Medikamenten verfügen, was eine State-of-the-art-Therapie nicht gerade einfacher macht. Doch Letzteres ist nur der Beginn einer an sich erfreulichen Entwicklung. Als klinisch tätiger Diabetologe mit einem angeschlossenen Forschungszentrum kann ich Ihnen versichern, dass die Diabetestherapie sich weiterhin rasant und hocheffizient entwickelt.

Entsprechend den neuesten Leitlinien der Fachgesellschaften, die auf Grund bahnbrechender Erkenntnisse ständig aktualisiert werden, sollen die derzeit verfügbaren Medikamente stufenweise und in sinnvoller Kombination verordnet werden. Dem steht jedoch der sogenannten Erstattungskodex der Versicherungen, welcher die Basis für die freie Verschreibbarkeit darstellt, entgegen. Innovative und damit teurere Medikamente werden mit Verweis auf billigere, aber weniger effiziente Alternativen oft nicht erstattet. Dass den höheren Medikamentenkosten die Vermeidung von teuren Komplikationen wie Herzinfarkt, Schlaganfall und Dialyse entgegensteht, wird bei einer kurzfristigen Kalkulation, welche alleine die Medikamentenkosten betrachtet, übersehen. Zudem kann von den niedergelassenen KollegInnen in der Allgemeinmedizin, welche zusätzlich eine Reihe von anderen Erkrankungen behandeln müssen, nicht verlangt werden, die komplexen Diabetestherapien stets auf dem neuesten Stand der Wissenschaft zu überblicken und adäquat anzuwenden.

Diabetesversorgung in Zeiten von Corona

Das ist die Situation in guten Zeiten. In schlechten Zeiten, wie wir sie in den letzten Wochen der Coronakrise erlebt haben, werden die Probleme noch drängender: Wir hatten eine stark eingeschränkte reguläre ärztliche Betreuung von Menschen mit Diabetes, ausgenommen natürlich die Versorgung mit Medikamenten. Eine durchaus indizierte, mehrwöchige häusliche Quarantäne mit daraus resultierender mangelnder körperlicher Aktivität lässt natürlich befürchten, dass die Diabeteseinstellung schlechter wird und das Risiko für Komplikationen steigt. In den sonst hochfrequentierten, derzeit allerdings heruntergefahrenen Ambulanzen und Ordinationen haben wir die PatientInnen mit Fußkomplikationen, Nierenschädigungen und schlechter Diabeteseinstellung vermisst. Das liegt nicht nur an der Bereithaltung von Ressourcen für die Coronakrise, sondern auch an der meines Erachtens nicht berechtigten Angst der PatientInnen vor einer Ansteckung in Gesundheitseinrichtungen. Wie sich dies auf die Rate an Komplikationen und vorzeitigen Todesfällen auswirkt, möchte ich mir nicht vorstellen.

Sogar Schwangere hatten zum Teil größte Schwierigkeiten, sich einem Zuckerbelastungstest in der 24. bis 28. Schwangerschaftswoche zu unterziehen, der normalerweise routinemäßig in Labors durchgeführt wird. Dieser Test ist im Mutter-Kind-Pass vorgesehen und dient der Erkennung des Schwangerschaftsdiabetes, der für Mutter und Kind ein Risiko darstellt. Infolgedessen werden wir in einigen Monaten mehr Neugeborene sehen, die bei der Geburt zu groß sind, nach der Entbindung an Unterzuckerungen leiden und ein höheres Diabetesrisiko im späteren Leben aufweisen.

Wie können wir also die Diabetesversorgung verbessern?

Die gute Nachricht ist: Menschen mit Diabetes haben eine normale Lebenserwartung, wenn Blutzucker, Blutdruck und Cholesterin im Zielbereich sind. Wie können wir also die Diabetesversorgung verbessern? Mit frühzeitiger Schulung und neuen Medikamenten in sinnvoller Kombination können diese Zielwerte rasch und dauerhaft erreicht werden. Dazu ist allerdings eine Änderung der Strategie notwendig. Wir müssen neue Konzepte entwickeln, die vermehrt auf die Vernetzung zwischen den Gesundheitsanbietern setzen.

Dazu meine persönliche Vision: Die Betreuung von Menschen mit Diabetes sollte von Diabeteszentren und Ambulanzen zentral koordiniert werden. Dort erfolgen die initialen Schulungen, werden Risikofaktoren erhoben und, in enger Zusammenarbeit mit den betreuenden niedergelassenen AllgemeinmedizinerInnen und InternistInnen, die Therapieschritte und individualisierte Behandlungsziele festgelegt. Diese in der Regel von EndokrinologInnen geleiteten Zentren können dann auch ohne vorherige Genehmigung innovative Medikamente verordnen, da diese Berufsgruppe auf Grund der Ausbildung und Erfahrung mit den neuesten Entwicklungen vertraut ist. Während bei PatientInnen mit onkologischen oder rheumatologischen Erkrankungen der sofortige Einsatz von innovativen Medikamenten Standard ist, werden den Menschen mit Diabetes und unzureichender Blutzuckereinstellung über lange Zeit hinweg innovative Medikamente, die nachweislich das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall und Dialyse vermindern und das Leben verlängern können, verwehrt.

Ein Blick in die gar nicht entfernte Zukunft zeigt uns, was die bereits verfügbaren Errungenschaften der immensen Fortschritte hinsichtlich Diagnostik und Therapiemöglichkeiten in der Diabetologie für Betroffene bringen werden. Auch Menschen mit Typ-2-Diabetes werden nicht mehr täglich mehrmals blutig den Zucker kontrollieren, sondern mittels Sensoren, die bei zu hohen oder zu tiefen Zuckerwerten alarmieren, kontinuierlich den Gewebezucker messen. Dies verhindert nicht nur Entgleisungen des Blutzuckers, sondern erleichtert die Diabeteseinstellung ungemein. Wir werden, so erstattet, Medikamente mit bisher nicht bekannter Effizienz und niedrigem Nebenwirkungsprofil frühzeitig und in Kombination einsetzen und die Blutzuckereinstellung langfristig normalisieren und stabilisieren. Im Falle der Insulintherapie werden Insulinpumpen selbständig die Insulinzufuhr durch Kommunikation mit Sensoren regeln und das Leben der Menschen mit insulinpflichtigem Diabetes beträchtlich erleichtern. Der technologische Fortschritt wird dann auch eine zusätzliche telemedizinische Betreuung erlauben, die uns jetzt in Zeiten der Krise mit eingeschränkter Verfügbarkeit von Gesundheitseinrichtungen noch fehlt.

Wenn wir diese Möglichkeiten effizient und koordiniert einsetzen, werden Menschen mit Diabetes endlich adäquat behandelt und nicht mehr durch Schuldzuweisung hinsichtlich ihres Lebensstils und durch Vorenthaltung innovativer und effizienter Medikamente diskriminiert.

Es bleibt zu hoffen, dass diese Vision ehebaldig Realität wird und nicht nur ein frommer Wunsch eines Diabetologen bleibt.