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Dem Diabetes Antwort geben

Dr. Christian Tatschl hat in der Diabetes-Szene ein starkes Zeichen gesetzt.

Dr. Christian Tatschl hat in der Diabetes-Szene ein starkes Zeichen gesetzt: Nach 20 Jahren in Pharma-Diensten begann der Mediziner neu als besonderer Therapeut. Seine Spätberufung kommt für Diabetiker mit wundem Gemüt wie gerufen.

Das Leben mit Diabetes ist eine Frage der richtigen Einstellung – im doppelten Wortsinn. Die klassische Therapie des Körpers hat dabei enorme Fortschritte gemacht. Belege dafür reichen von stichfreien Messgeräten über moderne Insuline bis zu neuen Medikamenten, die das Leben deutlich verlängern.

Aber die Erkrankung versehrt oft auch die Psyche. Unter Leidensdruck vor allem Menschen mit Typ 2-Diabetes. Denn während Typ 1 als Autoimmunerkrankung gemeinhin als schicksalhaft gilt, kommt man mit süßem Blut und Übergewicht leicht in Verruf, willensschwach und am Resultat selber schuld zu sein. Die üble Nachrede (Korpulenz kann viele Ursachen haben) schlägt Betroffenen aufs Gemüt. Sie fühlen sich allein gelassen und von ihrer Krankheit überfordert.

Die organische Behandlung ist darauf nicht eingestellt. Fachärzten fehlt meist die Zeit, um auf die Seelentemperatur von Patienten tiefer einzugehen; zudem haben sie andere Aufgaben. Auch DiabetesberaterInnen können hier häufig nicht weiterhelfen, da ihr Fokus auf Schulung und Beratung liegt und für eine weitergehende Betreuung oft die strukturellen Voraussetzungen fehlen.

Resultat: Viele Diabetiker mit verletztem Gemüt fühlen sich vom Gesundheitssystem alleine gelassen.

Die Folgen sind ungesund. Denn Adipositas, so der medizinische Terminus für das hohe C auf der Waage, zählt zu den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Das Heer der Hochgewichtigen wächst bedrohlich – und im Sog auch die Zahl derer, die mit Typ 2-Diabetes im weiten Land der Seele die Orientierung verlieren.

Therapeut  mit der Ausstrahlung eines Kachelofens

Dr. Christian Tatschl (50) kennt viele Beispiele. Denn der Mediziner hat 20 Jahre gleichsam am akademischen Zuckerhut verbracht. Als „Gesundheitskommunikator“ im Bereich Diabetologie und in Diensten forschender Pharmafirmen hat er Professoren vernetzt, Studien verständlich erläutert, bei Selbsthilfegruppen nützliches Wissen vorgetragen und immer Kontakt zu Patienten gesucht.

Der Doktor mit dem wachen Blick und der behaglichen Ausstrahlung eines Kachelofens ist ein Menschenfreund – und dafür gibt es einen umwerfenden Beweis: Die Hilflosigkeit psychisch angeschlagener Diabetiker hat Tatschl mit der Zeit so betroffen gemacht, dass er beschloss, selbst beizustehen: Der Mediziner begann spät noch einmal neu im Beruf. Heute ist er Psychotherapeut (in Ausbildung unter Supervision), seit Dezember 2019 mit eigener Praxis (in Wien-Essling). Ziel der Betreuung dort: die Erkrankung so zu schultern, dass sie einem freien und erfülltem Leben nicht mehr im Weg steht.

Tatschls Sprung ins Ungewisse in reifen Jahren sorgte in der Diabetes-Szene für offene Münder. Allerdings war seine Vita auch davor schon bunt. In Klagenfurt aufgewachsen, träumte er als Teenager davon, Musiker oder Filmemacher zu werden. Erste Überraschung somit: sein Medizinstudium. Nach gutem Karrierestart in der Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin am AKH Wien folgte die nächste scharfe Kurve: hin zur Pharma-Diabetologie. Aber auch die Anerkennung dort hielt Tatschl zuletzt nicht von seinem mutigsten Schwenk ab. Und wie’s aussieht, ist er jetzt in seiner Bestimmung angekommen.

Denn die Mundpropaganda von Patienten und die Empfehlung von Ärzten haben die neue Praxis rasch in Schwung gebracht. Besonders geschätzt wird die doppelte Expertise – Diabetes und Psyche. O-Ton des Spätberufenen dazu: „Die Leute fühlen sich anscheinend einfach wohler, wenn sie über ihre Insulintherapie oder andere Belastungen durch die Erkrankung sprechen und das Gegenüber weiß, was der tägliche Umgang mit Diabetes an Lebensaufwand, Umstellungen und Schwierigkeiten bedeutet.“

Weg von Depressionen, Angststörungen und Verruf

Mit psychischen Problemen steht man als Diabetiker aber keineswegs alleine da. Dr. Tatschl kennt aus seiner früheren Tätigkeit das Ausmaß der seelischen Belastungen: „Jeder vierte Diabetiker leidet unter Depressionen oder ist antriebslos, niedergeschlagen und traurig verstimmt. Weitere 20 Prozent plagen Angststörungen“. Hohe Hürden sind laut dem Fachmann auch die Stigmatisierung und Diskriminierung von Schwergewichten. Jeder Laie glaubt aus 50 Metern Entfernung die Ursachen zu kennen. Anforderungen und Beulen am Gemüt resultieren im Gefühl, dass alles zu viel wird. An einem derartigen Diabetes Distress leiden bis zu 45% der Betroffenen.

Tatschls Navi aus der Malaise ist die Existenzanalyse, denn er ist überzeugt: „Das Einzige, was bei Menschen mit Diabetes untereinander wirklich vergleichbar ist, sind die Laborwerte. Sonst aber ist jeder ein Individuum mit persönlichen Problemen, die persönliche Antworten verlangen. Und auf das muss ich eingehen.“

Der Ansatz macht den Therapeuten zum Mann für alle Fälle mit dem gleichen Ziel: sich dem Diabetes nicht mehr zu unterwerfen, sondern die Krankheit in den Alltag zu integrieren, um ein schönes Leben zu führen.

Selber wieder am Steuer stehen

 „Bei mir“, erklärt Tatschl sein Instrumentarium, „gibt es keine Ernährungsberatung, keine Trainingsplanung und kein 5-Punkte-Programm mit dem Versprechen: Machen Sie das und Sie werden glücklich.“ Existenzanalyse greift tiefer. Erster Schritt ist, sich der Realität zu stellen. „Die Realität pfeift sich nämlich nichts darum, ob wir sie mögen oder nicht – sie ist einfach da“.  Die grundlegende Frage daher: „Das ist meine Situation. Was mache ich jetzt daraus?“ Denn wer Belastungen nicht länger verdrängt, gewinnt wieder Boden unter den Füßen. Für Diabetiker der Zeitpunkt, sich mit der Frage zu beschäftigen, was eigentlich ihr höchst-persönlicher Standpunkt zu ihrer jeweiligen Situation, zur eigenen Gesundheit, zu ihrem Lebensstil und zu den therapeutischen Vorgaben ist. Grob skizziert geht es darum, was trist macht zu erkennen – und im Rahmen des medizinisch Notwendigen - eigene Antworten zu finden. Es geht also buchstäblich um „Selbst-Verantwortung“ bei der Lebensgestaltung. Eigene Entscheidungen aus einer gefühlten „Stimmigkeit“ heraus motivieren und können wieder Unbeschwertheit schaffen, wo ein verstörtes Gemüt verschüttet ist. Für ein gutes Leben mit Diabetes braucht es die passende Einstellung ­– im doppelten Wortsinn.

„Existenzanalyse“, schwärmt Therapeut Tatschl, „ist für mich wie eine Bedienungsanleitung zum eigenen Leben, die sich jeder Mensch selbst erarbeitet“. Seine Rolle dabei analysiert er so: „Das Wort leiden kommt vom althochdeutschen līdan:  = gehen, reisen. Also meint Mitleid keine Empfindung von oben herab, sondern Begleitung auf einem Weg.“

Zwar sind es in der Mehrzahl Frauen, die auf diese Unterstützung vertrauen, aber zunehmend finden auch Männer den Weg in die Praxis. Die meisten kommen einmal pro Woche. Manche fühlen sich nach zehn Terminen gewappnet, mit Diabetes ein zufriedenes Leben zu führen. Andere möchten lieber eine längerfristige Begleitung auf ihrer Reise aus dem Schatten.

Im Einklang der Leitspruch seiner Spätberufung: „Tritt ein, leg ab, hier kannst Du sein - ich gehe mit Dir“.

 

Weitere Informationen:

www.sinn360.at

 

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