Darmgesundheit: Wie konnten wir uns bloß so irren?
Schon in den letzten Jahren haben Studien Zusammenhänge zwischen der Darmflora und Diabetes gezeigt. Die Forscher der MedUni Graz gehen davon aus, dass die Zusammensetzung der Darmbakterien nicht nur chronische Entzündungsprozesse beeinflusst, sondern auch das mehr oder weniger starke Ansprechen des Körpers auf Insulin.
Mikrobiom: Unsere Gäste im Darm
In unserem Verdauungstrakt leben Billionen Bakterien. Die winzigen Mitbewohner beeinflussen unser Wohlbefinden enorm: Wer seine Mikroben gut behandelt, schützt nicht nur den Bauch vor zahlreichen Krankheiten – sondern auch seine Seele.
Wie konnten wir uns bloß so irren – jahrzehntelang? Gesundheit, glauben wir, verlangt radikale Reinheit, und Mikroben waren böse. Keimfrei sollte das Leben sein. Wäsche wurde ausgekocht, das Bad desinfiziert. Und für das Innere des Menschen gab es hundert Sorten Antibiotika. Großzügig verordnet, selbst dem lieben Vieh.
Seit wir uns jedoch überwiegend industriell, ballaststoffarm und zuckersüß ernähren, grimmt es in den Bäuchen. Reizdarmsyndrom und Allergien, Unverträglichkeiten und Fettleibigkeit plagen die Menschen.
Aber es gibt Hoffnung. Und die hängt mit den missverstandenen Mikroben zusammen: Denn nur einige Arten sind gefährlich, viele jedoch nützlich – und die fehlen uns heute. Besonders im Bauch. Wissenschaftler wollen das ändern. Dazu reisen sie in die entlegensten Winkel der Welt.
Fernab von Straßen und Städten, in den Bergen Venezuelas, liegt ein Menschheitsschatz. Er ruht in den Eingeweiden der Yanomami, die als Jäger und Sammler durch die Wälder ziehen. Bakterien in ungeahnter Vielfalt. Dieser Reichtum ist uns verloren gegangen, und unsere Mikrobenarmut ist für eine Vielzahl von körperlichen und psychischen Leiden verantwortlich, da sind Fachleute sicher.
Nun arbeiten sie daran, die nützlichen und bedrohten Einzeller zu bergen und zu konservieren. Die Gesundheit künftiger Generationen können davon abhängen, dass ihr Mammutprojekt „Noahs Arche“ glückt.
Federführend ist Maria Gloria Dominguez-Bello von der Rutgers University in New Jersey. Seit bald zwei Jahrzehnten unternimmt die gebürtige Venezolanerin Expeditionen zu den indigenen Völkern Südamerikas und Afrikas. Abgesehen hat ihr Team es auf Abstriche von Haut und Schleimhäuten – und auf Stuhlproben. „Unsere Gastgeber lachen immer erst darüber, dass wir von so weit herkommen, um ihre Hinterlassenschaften zu holen“, sagt Dominguez-Bello. Doch sobald die Wissenschaftler ihnen mit dem Mikroskop all die winzigen Organismen aus ihrem Inneren zeigen, verstehen sie es.
Auch bei anderen Völkern, die in und mit der Natur leben, entdecken Forscher einen ungewöhnlichen Bakterienreichtum – so bei den Hadza in Tansania und den Malawi in Venezuela. Die Yanomami aber stellen alle in den Schatten: Bis zu doppelt so viele Mikroben bewohnen ihren Darm, ihre Haut und die Schleimhäute als bei US-Amerikanern. Wohlstandskrankheiten wie Diabetes oder Arterienverkalkung treten bei den Yanomami nicht auf, so Ergebnisse mehrerer Studien seit den 1980er-Jahren.
Bakterien gehören zu uns wie unsere eigenen Zellen. In und auf einem Menschen leben 40 Billionen Mikroben, zwei Kilogramm insgesamt. Die meisten tummeln sich im Dickdarm. Über Nervenbahnen zum Gehirn beeinflussen sie selbst unser Gefühlsleben. Mikroben bestimmen mit, ob wir gesund alt werden oder früh an chronischen Krankheiten wie Asthma, Diabetes oder Krebs leiden. Und je artenreicher es im Darm zugeht, desto stabiler ist das Ökosystem in uns. Denn die Einzeller bilden eine Lebensgemeinschaft, in der sie sich ergänzen.
Sie halten Störenfriede wie den berüchtigten Keim Clostridioides difficile in Schach, der normalerweise in einer Nische haust und keine Probleme bereitet. Werden jedoch seine Mitbewohner durch Antibiotika plattgemacht, überwuchern Clostridioides-Kolonien die Darmschleimhaut und verursachen chronische, mitunter tödliche Durchfallerkrankungen, gegen die Medikamente manchmal nicht helfen.
Bifidobakterien aktivieren Abwehrzellen gegen Krebs
Man nennt unser inneres Ökosystem „Mikrobiom“. Ohne den Bakterienrasen im Darm sind Menschen nicht überlebensfähig. Es ist eine gigantische Chemie- und Arzneimittelfabrik, in der schätzungsweise ein Drittel aller Stoffwechselprodukte hergestellt wird, die in unserem Blut kreisen. Das Vitamin Biotin, wichtig für die Infektabwehr, gesunde Haut und Haare, ist ein Mikrobenerzeugnis. Ballaststoffe für den Menschen sonst unverdaulich, werden von Bakterien zu kurzkettigen Fettsäuren abgebaut. Diese versorgen Zellen der Darmschleimhaut mit Energie und lindern Entzündungen. Ein wahrer Tausendsassa ist das Faecalibacterium prausnitzii. Fünf Prozent des Darm-Mikrobioms gehören zu dieser Familie. Bei Zeitgenossen, die an Reizdarm, Übergewicht, Darmkrebs oder entzündlichen Darmerkrankungen leiden, ist sein Gehalt im Stuhl verringert. Gegen Krebs wiederum sind Bifidobakterien wirksam, sie aktivieren Abwehrzellen. Blautia hemmt Entzündungen, Collinsella regelt den Cholesterinstoffwechsel. An beiden mangelt es Patienten mit Herzschwäche.
Auch auf das Seelenleben üben die Einzeller massiven Einfluss aus. Früher glaubte man, die Informationen auf den Nervenbahnen der „Darm-Hirn-Achse“ flössen stets per Einbahnstraße von oben nach unten – aber es geht auch umgekehrt. Das wirft eine große Frage auf: Wer wären wir ohne unsere Mikroben? Welchen Anteil haben sie daran, wenn wir Angst haben oder mutig sind, lieben oder hassen, ja: Wie fremdgesteuert sind unsere Gedanken? Als einer der Ersten ging der japanische Forscher Nobuyuki Sudo dem nach. Er steckte Mäuse in eine sich kegelförmig verengende Röhre, die ihnen die Bewegungsfreiheit nahm. Dann maß er ihr Stesshormon-Level und wie schnell sie sich wieder beruhigten. Ein Teil der Mäuse besaß keine Darmflora. Eine zweite Gruppe verfügte über normale bakterielle Besiedlung, in der dritten lebten nur gezielt gewählte Mikroben.
Am wenigsten gestresst waren Tiere mit gesundem Mikrobiom, die beiden anderen Gruppen wurden mit wi8drigen Umständen deutlich schlechter fertig: Es kommt nicht nur darauf an, dass der Darm bakteriell bewohnt ist, sondern sehr auf die Zusammensetzung seiner Bevölkerung.
Die Krux der Mikrobiomforschung: Wie genau alles miteinander zusammenhängt, müssen die Wissenschaftler noch klären. Bei vielen Krankheiten indes entdecken sie auffällige Veränderungen. Sind sie nun Ursache, Folge oder beides? Und wovon hängt es ab, welche Bakterien in uns siedeln? Wie kann der Mensch das Mikrobiom günstig beeinflussen?
Belegt ist, dass Kinder die im ersten Lebensjahr viele Antibiotika bekommen haben, später öfter dick werden und an Asthma leiden. Doch nicht nur Antibiotika sind gefährlich – in einer Studie mit Medikamenten schädigte mehr als ein Viertel der Stoffe die Darmflora, darunter bislang unverdächtige Mittel wie Protonenpumpenhemmer gegen Sodbrennen oder Psychopharmaka.
Fertigkost ist eine Belastung für die Darmmikroben
Die Yanomami haben nie Medikamente genommen. Wenn sie erkranken – etwa an Malaria oder Parasiten -, heißt es: sterben oder überleben. Wenn sie es überstehen haben sie große Chancen, sehr alt zu werden. Ihren Bakterienschatz füttern sie zeitlebens mit einer Kost, die ihre Darmbewohner offenbar lieben. Obst, Gemüse und gegrillte Cracker aus der Yuccafrucht, viel Fisch, Fleisch aber nur zweimal die Woche – golfballgroße Hackfleischbällchen von Wild, das die Männer erjagt haben. Gewürzt wird mit Pfeffer; Salz und Öl gibt es nicht. Gegrillt wird ohne Fett. „Die Yanomami essen rund 100 Gramm Ballaststoff am Tag. Für uns gelten30 Gramm als viel. Wer sich ausschließlich von Fast Food ernährt, kommt auf wenig mehr als null“, sagt Maria Dominguez-Bello. Für die Forscherin ist die Ernährung der Yanomami ein weiterer Faktor für ihr reiches Mikrobiom.
Ernährungswissen erscheint dank solcher Erkenntnisse in neuem Licht. Zu viel Salz erhöht bei vielen Menschen den Blutdruck, jedoch keineswegs bei allen. Salz tötet Bakterien, die blutdrucksenkende Stoffe erzeugen – und dieser Effekt könnte wesentlich sein. Ballaststoffe aus Obst und Gemüse schützen vor Krebs, Herzkrankheiten und vielen mehr.
Und dabei kommt es wohl nicht so sehr darauf an, wie sie uns selbst bekommen, sondern vor allem darauf, dass die vielen Billionen Haustierchen im Darm gut zu fressen haben. Viele von ihnen sind Vegetarier. Wer viel Rind-, Schweine- und Lammfleisch isst, erhöht hingegen sein Herzinfarktrisiko; er päppelt Bakterien, die einen Stoff absondern, aus dem die Leber Trimethylaminoxid(TMAO) macht. Dieses Eiweiß bewirkt, dass Blutplättchen stärker verkleben und Gefäße in Hirn und Herz verstopfen. Menschen mit viel TMAO im Blut erleiden bis zu sechsmal häufiger Herzinfarkte.
Könnte eine Stuhltransplantation gegen Diabetes helfen?
Große Hoffnungen setzen Wissenschaftler auf „Probiotika“. Also Mixturen lebender Mikroorganismen, zugeschnitten auf bestimmte Krankheiten. Es gibt erste Erfolge: Nach Antibiotikatherapien bekommen Kinder oft Durchfall. Seltener passierte dies in einer Studie, nachdem sie eine Extraportion Laktobazillen und Bifidobakterien zu sich genommen haben. Auch für die entzündliche Darmerkrankung Colitis ulcerosa fanden Forscher eine Mikrobenkur, die die Anzahl der Krankheitsschübe ähnlich gut verringerte wie ein Standardmedikament.
Weiter gediehen sind Versuche, Patienten komplette Mikrobiome zu übertragen: per „Stuhltransplantation“. Dabei wird eine Stuhlprobe von gesunden Spendern mit steriler Kochsalzlösung versetzt, gequirlt und per Endoskop in den oberen Dünndarm und den Dickdarm des Empfängers verabreicht.
Bei Patienten, die unter dem Keim Clostridioides difficile leiden, zeigt das gute Wirkung, im Darm siedelt sich wieder ein gesundes Mikrobiom an. Bisher wird die Prozedur nur bei dieser Art von Problemkeimen eingesetzt. Doch weltweit laufen kleinere Studien an Patienten mit Diabetes, Morbus Crohn und Multipler Sklerose.
Biologisches Bankschließfach der Menschheit
Maria Dominguez-Bello arbeitet unterdessen mit ihrem Projekt „Noahs Arche“ daran, das Mikrobiom der Yanomami und anderer indigener Völker zu konservieren. „Die Zeit drängt“, sagt sie. „In zehn Jahren könnte es zu spät sein.“ Die westliche Lebensweise dringt auch in die entlegensten Regionen vor, bald wird es keine Yanomami mehr geben, die weder Ärzte, Antibiotika noch Fast Food kennen. Bislang lagern die Stuhlproben, die sie über bald 20 Jahre gesammelt hat, tiefgekühlt in Dominguez´ Labor. Irgendwann aber sollen sie umziehen in einen Tresor. Gleichsam ein biologisches Bankschließfach der Menschheit.
Es gibt ein Vorbild auf Spitzbergen, den Svalbard Global Seed Vault. Dort im ewigen Eis, lagern etwa eine Million Saatgutproben in Plastikbeuteln. Falls eine globale Katastrophe eintritt, könnten ausgestorbene Pflanzen aus dem Genmaterial nachgezogen werden. „Wir haben uns mit den Machern dieses Samentresors in Verbindung gesetzt und erfahren, dass sie 30 Jahre dafür gebraucht haben“, sagt Dominguez.
Etwas schneller soll es mit den Stuhlproben schon gehen. Unterstützt von zwei Schweizer Stiftungen lässt Dominguez klären, wie die Aufbewahrung optimiert und standarisiert werden kann. Und ob sich im Alpenland ein sicherer Lagerort für den Darminhalt von Menschen aus aller Welt finden lässt.