Darauf kommt es bei älteren Diabetespatienten an
Wenn Typ-2-Diabetes und fortgeschrittenes Lebensalter aufeinandertreffen, gibt es einige Besonderheiten zu beachten – etwa Begriffsdefinitionen, alterstypische Funktionseinschränkungen und angepasste Zielkorridore bei der Blutglukoseeinstellung.
Über das Alter spricht man nicht – dieser einst ehrenwerte Leitspruch ist beim medizinischen Versorgungsmanagement fehl am Platz. Hier stellt sich vielmehr die Frage, ab wann Menschen als „alt“ bezeichnet werden. Gemäß WHO-Definition ab 65 Jahre.
Unterklassifikationen:
- „junge Alte“: 65–75 Jahre
- „alte Alte“: 75–90 Jahre
- „Hochbetagte“: 90–100 Jahre
- „Langlebige“: ab 100 Jahre
Auch der Begriff „geriatrisch“ sollte definitionsgerecht angewendet werden: Prinzipiell ist jeder, der über 70 Jahre alt und eine geriatrietypische Multimorbidität aufweist, ein geriatrischer Patient. Dasselbe gilt für alle über 80-Jährigen aufgrund der alterstypisch erhöhten Vulnerabilität, beispielsweise bei Komplikationen, Folgeerkrankungen oder Chronifizierungsrisiken.
Funktionseinschränkungen beeinflussen Behandlungsplan
Die Tragweite dieser Definitionen wird durch drastische demografische Prognosen veranschaulicht. 2050 werden in Deutschland zehn Millionen über 80-Jährige leben, derzeit sind es knapp vier Millionen. Gleichzeitig steige die Diabetesinzidenz und -prävalenz im hohen Lebensalter. Epidemiologischen Daten zufolge ist hierzulande etwa jeder zweite Mensch mit Typ-2-Diabetes über 70 Jahre alt.
Multimorbidität als besondere Herausforderung
- kardiovaskuläres System: Hypertonie, Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit
- Metabolismus: Hyperlipidämie, Leberinsuffizienz u.a.
- Urogenitaltrakt: Infektionen, Harninkontinenz, Niereninsuffizienz
- Respirationstrakt: COPD, Asthma
- Bewegungsapparat: Bewegungseinschränkungen, Osteoporose, Arthrose u.a.
- Sinnesorgane: Schwerhörigkeit, Katarakt u.a.
- Nervensystem: Demenz, Depression, Neuropathien, M. Parkinson
Erschwerend kommt beim Therapiemanagement oft Multimorbidität hinzu. Alterstypische Funktionseinschränkungen sind folglich besonders zu beachten. Daher wird für eine differenzierte Therapieplanung zunächst der funktionelle Status beurteilt. Die Einteilung erfolgt in vier Gruppen: funktionelle Unabhängigkeit, funktionell leichte bzw. starke Abhängigkeit und „End-of-Life-Situationen“ (Sterbephase), berichtet Privatdozentin Dr. Anke Bahrmann, Universitätsklinikum Heidelberg, und beruft sich dabei auf die S2k-Leitlinie „Diagnostik, Therapie und Verlaufskontrolle des Diabetes mellitus im Alter“.
Leitlinie rät von oGTT bei älteren Patienten ab
Besondere Aufmerksamkeit ist bei der Erstdiagnose eines Diabetes erforderlich, weil die klassischen Manifestationssymptome Polyurie und Polydipsie im Alter eher selten auftreten. Vielmehr sind Betroffene häufig asymptomatisch oder es finden sich unspezifische Symptome, beispielsweise Müdigkeit, Schwindel, Sehstörungen, ferner Folgeerkrankungen wie Polyneuropathie, Wundheilungsstörungen oder erhöhte Infektneigung. Gemäß Leitlinie sollte außerdem beachtet werden, dass bei der Diagnostik im Alter kein 75-g-oraler-Glukosetoleranztest (oGTT) empfohlen wird. Das Risiko gastrointestinaler Nebenwirkungen und die schwierige Umsetzbarkeit stehen im Fokus.
Im Praxisalltag wird zudem oft die Frage gestellt, ob bei Personen über 70 Jahre überhaupt eine Verbesserung des HbA1c-Werts angestrebt werden sollte, sagte die Referentin weiter. Angesichts solcher Überlegungen erscheint der Blick in die Forschungsliteratur als hilfreich. Die Lebenserwartung von 70-Jährigen mit neu diagnostiziertem Diabetes mellitus beläuft sich – zumindest laut Daten aus dem Jahr 2003 – bei Frauen auf über elf Jahre. Bei Männern beträgt diese Zeitspanne mehr als neun Jahre. „Das ist ein Zeitraum, in dem Folgekrankheiten auftreten können und diese möchten wir vermeiden“, so die Expertin. Generell sollten Fähigkeiten und Ressourcen älterer Menschen bei der Festlegung der Behandlungsziele berücksichtigt werden. Zudem spielt die vermutete Lebenserwartung eine Rolle.
So geht es im Rahmen der differenzierten Therapieplanung vorrangig um den Erhalt der Lebensqualität und die Vermeidung von therapiebedingten Akutkomplikationen, z.B. Hypoglykämien. Allgemein gilt, die funktionellen Beeinträchigungen von geriatrischen Syndromen zu reduzieren. Dies betrifft beispielsweise Sturzneigung, kognitive Störungen oder Harninkontinenz. HbA1c-Zielwerte haben nach Einschätzung der Spezialistin einen vergleichsweise geringeren Stellenwert. Die anzustrebenden Stoffwechselziele variieren in verschiedenen Leitlinien. Laut Praxisempfehlungen der Deutschen Diabetes Gesellschaft zum Beispiel sollten in Abhängigkeit derindividuellen Funktionalität unterschiedliche HbA1c-Zielkorridore angestrebt werden.
Diabetes im Alter: variable HbA1c -Zielkorridore
- funktionell unabhängig: ≤ 7,5 % (≤ 58 mmol/mol)
- funktionell leicht abhängig: ≤ 8,0 % (≤ 63,9 mmol/mol)
- funktionell stark abhängig: ≤ 8,5 % (≤ 69,4 mmol/mol)
- End-of-Life-Situation: HbA1c ist sekundär, Symptomfreiheit anstreben
Für die Behandlung ergibt sich daraus Folgendes: Im Wesentlichen unterscheidet sich die Therapie von Menschen mit Diabetes im Alter nicht von der Behandlung jüngerer Personen. Als Basisbausteine gelten Schulung (strukturierte geriatrische Schulung, interkulturelle Kompetenz), Ernährung, Bewegung und Pharmaka. Fehl- und Mangelernährung seien generell zu bedenken, auch der Zahnstatus der Patienten sollte angeschaut werden. Im Hinterkopf zu behalten: Jede aktive Bewegung ist besser als keine. Bereits Spazierengehen mit einer geringen Leistung von 25 Watt hat eine Relevanz für den Stoffwechsel und wirkt sich positiv auf das Wohlbefinden und den Knochenmetabolismus aus.
Insulin erst, wenn andere Therapien nicht wirken
Nach Ausschöpfung der nicht-medikamentösen Basistherapie ist eine medikamentöse Therapie indiziert – unter Berücksichtigung individueller Behandlungsziele und unter Fortführung der nicht-medikamentösen Maßnahmen, erklären die Experten. Soweit keine Kontraindikationen vorliegen, gelte Metformin auch beim Diabetes im Alter als orales Antidiabetikum der ersten Wahl. Eine Besonderheit stelle eine klinisch relevante kardiovaskuläre Erkrankung dar. In diesen Fällen könne man mit Metformin plus SGLT2-Hemmer oder GLP1-Rezeptoragonisten beginnen.
Bei den oralen Antidiabetika gibt es substanzspezifisch einiges zu beachten: Metformin z.B. darf bei schwerer Niereninsuffizienz nicht eingesetzt werden. Bei Sulfonylharnstoffen ist die Hypoglykämiegefahr besonders zu berücksichtigen, u.a. bei Demenzkranken mit unregelmäßiger Nahrungsaufnahme.
Dies gilt es bei oralen Antidiabetika zu beachten
Metformin
- bei GFR < 30 ml/min absetzen; Dosisreduktion entsprechend GFR
- Pausieren bei Einsatz von Röntgenkontrastmitteln, OP in Vollnarkose, fieberhaften Erkrankungen, Magen-/Darm-Infekten, Exsikkose u.a.
- weder positive noch negative Effekte auf kardiovaskuläre Endpunkte
Sulfonylharnstoffe
- höchstes Hypoglykämie-Risiko mit der Gefahr teils schwerer und prolongierter Hypoglykämien, insbesondere bei älteren Menschen mit eingeschränkter Nierenfunktion und Polypharmazie
- unregelmäßige Nahrungsaufnahme als Hypoglykämierisiko
DPP4-Hemmer
- keine erhöhte Hypoglykämiegefahr
- einsetzbar bis zur terminalen Niereninsuffizienz
SGLT2-Inhibitoren
- geringes Hypoglykämierisiko
- erhöhtes Risiko für Genitalinfektionen
GLP1-Rezeptoragonisten
- geringes Hypoglykämierisiko
- Ansätze zur 1 x wöchentlichen Gabe
Eine Insulintherapie ist indiziert, wenn durch Lebensstiländerungen und/oder orale Antidiabetika das individualisierte Therapieziel nicht erreicht werden kann bzw. Kontraindikationen gegen die oralen Mittel vorliegen. Oder auch zur Vermeidung einer Polypharmazie im Alter. Der Zeitpunkt eines Wechsels auf Insulin sei umsichtig abzuwägen und sollte nicht verpasst werden: Denn ältere Menschen mit leichten kognitiven Störungen lassen sich noch gut in eine Schulung zur Insulintherapie einschließen. Die Form der Insulinbehandlung – supplementär, konventionell, intensiviert oder basal unterstützte orale Therapie – richte sich nach dem Diabetestyp, individuellen Therapiezielen, Präferenzen, Lebensstil und Fähigkeiten der Patienten.
Deutscher Kongressbericht: Diabetes Update 2021