Belächelt, beleidigt, ausgegrenzt
Von Peter P. Hopfinger
Der jüngste medial bekannt gewordene Fall ist jener des Maturanten Daniel K., 18, der so lange in einem Wiener Neustädter Gymnasium von Lehrern und Mitschülern gemobbt wurde, bis er entnervt in eine Maturaschule wechselte. Der Bursch ist an Diabetes Typ 1 erkrankt.
Im Alltag von Menschen mit Diabetes aber auch von stark übergewichtigen Personen ist das Leben mit Stigma weit verbreitet. In einer von der Schweizer Diabetes Gesellschaft veranlassten Studie unter Personen mit Typ-1- oder Typ-2-Diabetes wurde untersucht, in welchem Ausmaß die Studienteilnehmer in unterschiedlichen Lebensbereichen wie Schule, Berufswahl, Ausbildung und Erwerbstätigkeit, Armee, Mobilität (Autofahren, Flughafensicherheit), Steuersystem und Versicherungen, Sozialkontakten, Wahl sportlicher Aktivitäten oder im Zusammenhang mit dem Gesundheitssystem wegen des Diabetes schon einmal eine Ungleichbehandlung erfahren hatten.
Von den 3347 Befragten gab nur ein knappes Drittel (31,5%) an, dass sie noch nie wegen ihres Diabetes ungleich behandelt worden waren. Etwas mehr als zwei Drittel (68,5%) gaben dagegen an, schon solche Erfahrungen gemacht zu haben. Unter den von den Betroffenen am häufigsten genannten Wahrnehmungen fanden sich:
- der Eindruck, in der Öffentlichkeit aufgrund des Insulinspritzens komisch angeschaut zu werden (55 %),
- das Bild, Menschen mit Diabetes wären in der Regel alt und übergewichtig (48%),
- die Wahrnehmung, dass Diabetes für etwas Schreckliches gehalten wird (43%),
- das Gefühl, Menschen mit Diabetes würden als leistungsbeeinträchtigt (40 %)
- und als selbst schuld an ihrer Erkrankung (40%) angesehen.
Eine andere große Umfrage in den USA zeigte, dass ein erheblicher Anteil von Menschen mit Typ-1-Diabetes Stigmatisierung durch die Verwechslung und Assoziation ihrer Erkrankung mit Typ-2-Diabetes zu erleben. Viel gestellte Frage: „Darfst Du das überhaupt essen, Du bist doch Diabetiker?!“
Tatsächlich wünschten sich 19% der Erwachsenen bzw. Eltern von Kindern mit Typ-1-Diabetes eine Umbenennung der Erkrankung, um eine Abgrenzung vom Typ-2-Diabetes zu erreichen. Dabei dürften, wie bei der Adipositas, mangelndes Wissen oder fehlerhafte Vorstellungen über die Zusammenhänge bezüglich der Entstehung der verschiedenen Formen des Diabetes eine wichtige Ursache für die Entstehung sowohl von Diabetesstigma als auch von Gewichtsstigma sein.
38% der Teilnehmer mit Typ-1-Diabetes und 16 % der Personen mit Typ-2-Diabetes gaben mangelndes Wissen über Diabetes als Grund für die von ihnen erlebte Stigmatisierung an.
79% bzw. 80% der Allgemeinbevölkerung waren der Meinung, dass die Adipositas durch einen gesunden Lebensstil völlig vermieden bzw. geheilt werden könne (sogar bei Angehörigen der Gesundheitsberufe waren dies 57 % bzw. 62 %). Und auch bezüglich des Typ-2-Diabetes waren 66% der Allgemeinbevölkerung und 56% der Angehörigen der Gesundheitsberufe der Überzeugung, dass die Erkrankung durch einen gesunden Lebensstil völlig zur Heilung gebracht werden könnte.
Die Konsequenzen von Stigma
Stigmatisierungserlebnisse beeinträchtigen sowohl emotionale als auch soziale Aspekte des Lebens der Betroffenen und haben einen negativen Einfluss auf das Diabetesmanagement. Vor allem Frauen mit Typ-1-Diabetes sehen sich in ihrem emotionalen Leben durch diabetesbezogene Stigmatisierung beeinträchtigt: 42% der weiblichen Befragten mit Typ-1-Diabetes gaben an Gefühle wie Schuld, Scham, Kritik, Peinlichkeit oder Isolation empfunden zu haben.
Weniger stark ausgeprägt scheint die emotionale Auswirkung bei Männern mit Typ-1-Diabetes (30%) und Menschen mit Typ-2-Diabetes (25 %) zu sein.
Das Sozialleben empfanden mehr als jeder vierte Studienteilnehmer als beeinträchtigt (Typ-1-Diabetes 22–26%, Typ-2-Diabetes 23–30%). Sowohl Personen mit Typ-1-Diabetes (17 %) als auch Personen mit Typ-2-Diabetes (22 %) gaben an, dass das Diabetesstigma negativen Einfluss auf das Diabetesmanagement hat, insbesondere Frauen mit Typ-2-Diabetes.
Persönlicher Umgang mit Stigma
Menschen mit Diabetes empfinden häufig, als weniger leistungsfähig, willensschwach oder als eine Belastung für die Gesellschaft angesehen zu werden und noch dazu selbst schuld an ihrer Erkrankung zu sein. Solche Unterstellungen werden als ungerecht empfunden und verkennen die Betroffenen in ihrem Person sein. Häufige Reaktionen, mit denen Menschen auf ungerechte Behandlung reagieren, sind Auf-Distanz-Gehen, Aktivismus (Funktionieren, Überspielen), Aggression (Ärger, Trotz, Rachegefühle) oder das Leugnen als Totstellreflex.
„Während Typ-1 Diabetes als Autoimmunerkrankung oft als schicksalhaft wahrgenommen wird, wird der Typ-2-Diabetes meist als Folge von Disziplinmangel und geringer Selbstbeherrschung, also als selbst verschuldet wahrgenommen“, erklärt Mediziner und Psychotherapeut in Ausbildung unter Supervision Dr. Christian Tatschl, der sich auf die psychischen Folgen von Stigma bei Adipositas und Diabetes spezialisiert hat. „Dies ist aber durch die Forschung klar widerlegt. Gewichtskontrolle und körperliche Aktivität unterliegen eben nicht ausschließlich der willentlichen Kontrolle. Genetische, psychische und umweltbezogene Faktoren spielen eine ganz erhebliche Rolle.“
Fazit: Maßnahmen gegen die Entstehung von Stigma müssen auf gesellschaftlicher und persönlicher Ebene ansetzen:
- Soziales Marketing: Eine breite Aufklärungsarbeit über die tatsächliche Entstehung von Diabetes zum Abbau von ungerechtfertigten Zuschreibungen, vor allem der „Selbst-Schuld“-Etikettierung
- Medien: Korrekte und nicht-stigmatisierende Darstellung von Menschen mit Diabetes in Wort und Bild zum Abbau von stereotypen Zuschreibungen wie „faul, inkompetent, leistungs- oder willensschwach“
- Psychische Unterstützung: Reduktion der emotionalen Folgen von Stigma durch therapeutische Unterstützung und Selbsthilfegruppen.