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Althofen, wie es singt, lacht und schwitzt!

Standard-Redakteur Peter Illetschko bloggt von seiner Reha in Kärnten.

Althofen: Diabetes ist kein Zuckerschlecken. Deswegen ist es nicht nur wichtig, den Zucker so gut wie möglich "einzustellen", sondern auch Sport zu machen - und ab und zu um eine "Reha" bei der zuständigen Krankenkassa anzusuchen. Das sind drei Wochen Trainingslager, Arbeit an und für sich- der innere Schweinehund, der uns oft spätabends zum Kühlschrank führt, muss für diese Zeit verscheucht werden - und nicht nur das: man verlangt hier auch jede Menge körperliche Aktivität und Muskelaufbau. Da erlebt man schon einiges mit sich selbst und den anderen Kurgästen, da gibt es viele Augenblicke des Staunens, Zweifelns und Verzweifelns um letztlich wie ein gutes, aber schon einige tausend Kilometer fahrenden Auto mit neuen Reifen und auffrisiertem Motor wieder hundertprozentig straßentauglich zu sein. 

Unser Autor Peter Illetschko, Wissenschaftsjournalist beim STANDARD, selbst seit 18 Jahren Typ-1-Diabetiker, begibt sich bereits zum zweiten Mal ins Kur- und Rehabilitationszentrum Humanomed in Althofen im Norden Kärntens. Was er dabei erlebt, davon handelt dieser Blog. Es sind Tests, Schulungen, Untersuchungen und Trainings, die ihn beschäftigen werden. Danach wird er den Diabetes Typ 1 zwar nicht los sein, er wird sich aber fit wie ein Turnschuh fühlen.

16. Mai

Auch als Typ-1-Diabetiker, der die Zuckerkrankheit halbwegs im Griff hat, sollte man sich ab und zu nachschulen lassen. Der Hund liegt bekanntlich im Detail - und das kann gar nicht zu hoch eingeschätzt werden.

Wissen Sie zum Beispiel, dass man als Patient mit Funktioneller Insulin Therapie (FIT) unbedingt Folgendes beachten sollte: Das schnell wirksame Bolus Insulin unbedingt in den Bauch stechen, das lang wirksame basale Insulin in den Oberschenkel?

Gleich bei der ärztlichen Aufnahme durch Dr. Sandra Nowak im Humanomed Zentrum Althofen werde ich das gefragt: “Sehr gut, erste Prüfung bestanden!” sagt sie mit einem Lächeln. Freilich nicht, ohne zu ergänzen: “Und die Stichstelle bitte regelmäßig wechseln!” Jawohl, sagt der gelehrige Schüler, zumal er weiß, dass ansonsten Verhärtungen im Muskelgewebe drohen.

Ich habe mich also wieder auf “Reha” begeben. Der gelernte Österreicher sagt zwar “Kur”, aber das klingt doch zu sehr nach: Es fein haben, ausschließlich entspannen, vielleicht leichte Spaziergänge machen, ansonsten gut leben. Eine Rehabilitation verlangt mehr vom Gast: Eingeschliffene Eß- und Trinkgewohnheiten korrigieren, Bewegung machen, Muskel trainieren und - wie gesagt - sich nachschulen lassen. Aber auch: sich entspannen. Der Journalist in mir, Nachrichten lesen, beim eigenen Thema - Wissenschaft und Forschung bestmöglich am Ball bleiben, den Twitter-Account durchforsten, der muss nun eine Zeit lang Ruhe geben.

Ich werde also an mir und für mich arbeiten. Und da hilft gute Stimmung. Die anderen Patienten und Patientinnen am Esstisch nicht durch schlechte Laune runter zu ziehen - das kommt dann meistens im gleichen Umfang zurück. Natürlich nicht immer auf einem hoch intelligenten Level, manchmal regiert sogar der Schmäh der Pubertät, dann unterhält man sich darüber, dass “Kurschatten” heutzutage “Sternschnuppen” heißt, aber das sollte kein Problem sein. Wem es zu viel wird, der kann ja plötzlich und unerwartet einen Termin bei der Frau Doktor haben - und schnell fertig essen und gehen. Manchmal wird man auch Dinge gefragt, die zwar banal klingen, aber nur eines im Sinn haben: in den drei Wochen Rehabilitation ein angenehmes Miteinander mit Gleichgesinnten zu haben. “Bist Du neich?” erklang es am 15.5., am ersten Tag des Aufenthalts. “Neich” heißt natürlich “neu”, wie Sie sicher wissen. Und später hörte ich: “G’hörst Du zu die Zuckerleut?” Aber ja, dazu gehör ich, wenngleich ich nicht wusste, dass das offenbar schon ein Verein ist.

Gute Stimmung hilft auch Hoppalas und Krisen zu überstehen: Kurz vor der Anreise heftige Zahnschmerzen zu bekommen, das ist schon das Letzte. In meiner Not, checkte ich schnell ein, und besuchte einen Zahnarzt im Ort. Danach fragten mich alle Stationsschwestern und die Ärztin, wie es nun sei, ob der Zahn noch schmerze. Empathie mag zwar ein oberstes Gebot sein, bei Angestellten des Humanomed Zentrums, aber ehrlich: Einstudiert wirkte das nicht. Und es macht zuversichtlich für die nächsten drei Wochen.

20. Mai

Ich gestehe freimütig: Ich mag keine Listen schreiben, auch keine Listen über Broteinheiten (BE) und die dazugehörigen Insulineinheiten (IE). Und wenn ich es dann doch mache,  dann kann das recht chaotisch enden. Ein Haufen von Zahlen und Gekritzel, das bei der Lektüre desselben womöglich Verwirrung verursacht. Das haben die Krankenschwestern im Humanomed Zentrum schon leidvoll sehen müssen - und mich kurz vor dem Wochenende noch einmal entsprechend ermahnt. Sie liegen damit ja völlig richtig: Anpassungen in der Basis-Bolus-Therapie (FIT-Therapie) lassen sich ja sinnvollerweise nur vornehmen, wenn man genau weiß, wie viele BE und Insulin zu welchen Blutzuckerwerten führen.

Am Freitagabend diskutierten die Gäste des Gesundheitszentrums natürlich nicht über Broteinheiten - Ein Video, das plötzlich auftauchte, aufgenommen 2017 in Ibiza, war Gesprächsthema Nummer 1. “Hast Du gedacht, dass der so ein Gauner ist?”, sagt ein weiblicher Gast. Eine andere lacht sarkastisch: “Nein!” Am nächsten Tag sind die Protagonisten des Videos, Heinz-Christian Strache und Johann Gudenus (FPÖ), zurückgetreten - und die Koalitionsregierung ÖVP/FPÖ ist beendet.

Im Speisesaal hört man Sprüche wie: “Alle Politiker sind gleich”, “Skandal”, “Sauerei”. Und die, die bei Medien immer skeptisch sind, aber gern alles glauben, was an Verschwörungstheorien verbreitet wird:  “Wer weiß, ob das Video nicht gefälscht ist!”.

Sicher nicht deshalb verspannte sich die rechte Schulter auf’s Neue. Und auch der Zahnschmerz kam zurück: Das ist gemein. Aber natürlich fühlt man sich auch am Wochenende nicht alleine gelassen. Der Stützpunkt in der Herzstation ist immer besetzt. 

Eine Rotlichtkamera hilft genauso wie entzündungshemmendes Schmerzmittel. Und natürlich Bettruhe und Wärme. Lästig, aber da muss man durch.

Eine positive Nachricht gibt es noch zu melden: Tresiba, das Basalinsulin von Novo Nordisk, wirkt sehr flach und länger als das Sanofi-Produkt Lantus. Ich habe mich schon in Wien umgewöhnt, konnte aber die Langfristigkeit noch nicht richtig einschätzen. 17 Einheiten alle zwei Tage waren eindeutig zu wenig, nun probiere ich es, selbstverständlich unter ärztlicher Anleitung, mit 14 Einheiten täglich. Es macht also doch Sinn, detailreich Buch zu führen. 

 

21. Mai

Eine kleine Sprachnotiz am Beginn der ersten vollen Reha-Woche:

Heute hab ich etwa 40 Mal “gö” gehört: Weich, ja sanft ausgesprochen kam es daher, aber dafür fast nach jedem Satz. Auch das kann Vehemenz verleihen, zumindest soll es das Gesagte untermauern.

Kärtnerinnen und Kärntner sagen das recht gern, wenn sie etwas erklären wollen. Sie sammeln damit bei manchen Gästen Sympathiepunkte, bei manchen nicht, wieder anderen fällt das gar nicht auf. Jedenfalls bedeutet dieses “Gö” nichts anderes als “”Nicht wahr”, vielleicht auch  “Kannst Du mir folgen?”, “Checkst es?”, “Alles klar!?” oder wie in einem anderen Dialekt zu hören: “Host mi?”

Man hört es hier so häufig wie Verkleinerungsformen: “Brauchen’s a Sackale?” Lieb, oder? Ein Tipp: Wenn möglich, bitte nicht verwundert schauen, sonst hört man gleich darauf folgende Erklärung: “Brauchen Sie ‘ne Tüte!” “Nein, ich komme nicht aus Deutschland, nur aus Wien.”

Das Gegenüber kann einen Hauch von Erleichterung in den Gesichtszügen nicht verbergen. Ich verschweige diskret diese Beobachtung, Und sage: “Wir Wiener sagen höchsten Sackerl, aber niemals Tüte!” Die Antwort “Das klingt ja ähnlich wie unser Sackale” kann man ruhig unkommentiert lassen. Man traut sich fast nicht zu widersprechen, gö?

 

22.05.

Ein Kilogramm Minus auf der Waage nach einer Woche! Ich sehe das positiv - und freue mich. Der Bauchumfang aber ist gleich geblieben, sagt die Stationsschwester mit kritischer Stimme.  “Nein, Schwester, beim ersten Mal Messen vor einer Woche habe ich den Bauch mehr eingezogen als heute, ich schwöre!” Gelächter! Auch Mittwoch früh auf nüchternen Magen ist man noch zum Scherzen aufgelegt. Was sonst? Danach geht es zum Frühstück, man will ja keinen Unterzucker produzieren. Und dann zum Nordic Walking. Was die Trainerin als schön langsam und “kommod” bezeichnet, treibt dem Autor dieser Zeilen die Schweißperlen auf die Stirn. Dabei geht es nur “zum zweiten Bauern” - die Profis unter den Reha-Patienten wissen schon, wohin es geht, und liefern eine typisch österreichische Wegbeschreibung - an Präzision kaum zu überbieten.  “Ein bisschen durch den Wald - und wieder zurück.” Danach geht es zur Schulung, und ich habe den ersten wirklichen Hypo: Schwitzen, Zittern, Herzklopfen. Zwei Stück Traubenzucker sind bekanntlich eine Broteinheit. Ich brauche zwei Broteinheiten, um sicher wieder in den Zielbereich zu gelangen.

Dabei denke ich: Heute lauf ich sicher achtmal den unterirdischen Gang zwischen dem Haus 3 und dem Haus 1 des Humanomed Zentrums Althofen. Der Gang alleine macht schon 200 Schritte. An manchen Tagen betätigt man sich hier als Grüss.-August. “Guten Tag”, “Servas”, “Griassdi”, ein freundliches Lächeln und ein brummiges Kopfnicken. Ich habe alles im Repertoire. Also noch ein Stück Traubenzucker. Sicher ist sicher.

Beim Mittagessen jedenfalls bin ich trotz “Auffüllen” von Broteinheiten noch immer nicht im Überzucker, sicher deshalb, weil ich zuvor beim monitorisierten Ergometertraining war: Blutdruck und Herzfrequenz wurden unter Belastung getestet. Hier beweise ich mich als gewiefter Stratege. Wenn man selbst erst beim Salatbuffet ist, andere aber schon bei der Süßspeise - empfiehlt es sich nämlich, letztere für später sicherzustellen. Desserts werden hier nur reduziert gesüßt. Das darf man, auch als Diabetiker. Wir scherzen über die politische Lage, feixen über K.O.-Tropfen in der Suppe. Ein Tischnachbar sagt zum anderen: "Wow! Du bist schoaf!"

Wird es abends schön bleiben? Wird der Mai endlich ein wenig wärmer? Das mitgebrachte Rad wurde aufgrund der Regengüsse in den vergangenen Tagen auch noch nicht wirklich ausgeführt. Es wird Zeit. Zumal man abends jede Menge Getier hört: Schafe, Frösche, Grillen.

Wo ist eigentlich der Esel hin, der sich hier vor drei Jahren abends immer bemerkbar machte? Ein Reha-Gast sagt: "Vielleicht ist er in die Politik gegangen."

 

24.5.

Abendessen gibt es im Humanomed-Zentrum ab 17:30 Uhr. Sie meinen, dass sei viel zu früh? Dann bedenken Sie bitte, dass die ersten Therapien mitunter um 7 Uhr früh angesetzt sind.

Wer gemütlich isst, sich danach noch einen kleinen Kaffee gönnt, kann außerdem noch einen kleinen Spaziergang unternehmen. Das heißt, genau genommen: Er muss einen “Revers” unterschreiben und bis spätestens 22 Uhr wieder im Haus sein, denn danach wird zugesperrt. Bis dahin heißt es: Zurück in die Anstalt. Gestern bin ich von einem Patienten begleitet worden, dessen zentrales Thema Bluthochdruck ist. Plaudernd geht es sich ja noch leichter.

Tags zuvor habe ich mir eine Radtour eingebildet: Runter nach Althofen, einen Radweg entlang bis zu einer Einfamilienhaus-Siedlung, vorbei an einem Bauernhof mit einem kleinen Tiergarten: Ziegen, Hühner, Kaninchen, ein Hund, alles da! Und zuletzt über einen Feldweg zurück zu einer Straße, die wieder hinauf zum Gesundheitszentrum führt. Schlau, wie ich doch bin, hab ich die zuvor erstandene Pulsuhr eingeweiht. Schon bei der ersten leichten Steigung hat sie gepiepst. Ich stieg also vom Fahrrad ab. Und was sah ich da vor mir? Jenen Esel, den Patienten zuvor schon in der Politik wähnten. Zum Glück hat er sich anders entschieden. Einfach nur Grünzeug essen, das ist aus seiner Sicht jedenfalls sinnstiftender.

Der Weg hinauf zum Reha-Zentrum wurde vom heftigen Piepsen der Pulsuhr begleitet. Zum Glück war der Tischnachbar nicht dabei, der hätte wohl in seiner bekannt seriösen Art gemeint: Bei Dir piepst es wohl! Sehr lustig! Ich machte also immer wieder Pausen, so wie man mir das bei der Ausgabe der Pulsuhr erklärt hatte, und war trotzdem nach einer Stunde wieder in meinem Zimmer - und zufrieden, den Sonnenuntergang an einem der ersten wirklich schönen Maitage des Jahres 2019 im Freien erlebt zu haben.

Und ich war noch wegen einer zweiten Sache glücklich: Das so früh zu mir genommene Abendessen, eine wirklich riesige Portion Gemüsekuchen mit Kartoffeln, schien zumindest annähernd verarbeitet. Den Tischnachbarn, die Reduktionskost am Speiseplan stehen haben, fielen angesichts dieses vollen Tellers die Augen raus. Ich esse ja nur fettreduziert nach Speiseplan mit genau vorgegebenen Broteinheiten (BE). “Das schaut dann nach viel mehr aus, als es ist”, beruhigte die Kellnerin.

Ich war dennoch glücklich, nachher Bewegung machen zu dürfen. Die Kugel, die ich da ohnehin vor mir hertrage, muss ja kein Medizinball werden. Es reicht ja schon Handballgröße.

27. 5.

“Sie sind - medizinisch gesprochen - topfit.” Sympathische Ärzte und Ärztinnen wie Frau Dr. Caterina Kinsky-Sapetschnig sagen die Wahrheit und motivieren die Patienten mit einer dezenten Übertreibung. Als die ärztliche Leiterin der Stoffwechsel Rehabilitation in Althofen diesen schönen Satz als Ergebnis des Herz-Ultraschalls zum Besten gab, fühlte ich mich wirklich gut. Und wie war das 14 Tage davor? Naja, wir wollen den Mantel des Schweigens darüber breiten.

Die Reha zeigt ihre Wirkung, manifestiert unter anderem in traumhaften Zuckerwerten. Neulich war ich einen ganzen Tag im Zielbereich. Sie wollen es nochmal lesen? Gut: DEN GANZEN TAG.  “Werte wie ein Stoffwechsel-Gesunder”, hörte ich da von Dr. Sandra Nowak. Natürlich wusste ich, wie sie das meint. Und sie wusste, was ich dafür getan hatte. Nordic Walking, Heilgymnastik I und Heilgymnastik II - und selbstverständlich die üblichen gut 8000 bis 10000 Schritte zwischen den Untersuchungs- und Therapiestätten und jenem Haus, wo mein Zimmer ist.

Dabei war ich wieder brav der “Grüßaugust” vom Dienst: “Grüß Sie!”, “Sers!”, “Dere”, “Tag!” - Sie wissen ja, ich habe alles im Repertoire. Hier wird gegrüßt, was das Zeug hält. Wehe, wenn man einmal vergisst, das wäre so wie in Tirol über 1500 Metern Seehöhe nicht “Du” zu sagen. Oder sind es doch nur 1000 Meter? Da gibt es sicher individuelle Unterschiede. Auf diesem Weg - er ist für Schrittsammler wirklich wie geschaffen - sieht man immer die gleichen Menschen. Das ist gut, um nicht unnötig verwirrt zu werden.  Bei Therapien, die erfolgreich waren, ist das auch ganz wichtig: Vorige Woche hat mir eine junge Kärntnerin mit unbeschreiblichen Kräften eine schmerzhafte Muskelverhärtung aus dem Rücken heraus geknetet, man könnte auch massiert sagen. Heute war ich wieder bei ihr, ich bin jetzt ein Fan.

Die Hälfte des Aufenthalts ist vorbei. Langsam fragt sich ihr Blog-Schreiber: Wie kann ich diesen wundersamen Therapieerfolg in den Alltag übernehmen? Regelmäßig essen, regelmäßig schlafen, regelmäßig Bewegung und Muskeltraining: Klingt doch eigentlich ganz einfach oder? Warum ist es dennoch so schwierig? Es gibt übrigens Angebote für eine ambulante Nachbetreuung von Stoffwechsel-Reha-Patienten in mehreren Städten: in Graz, in St. Pölten, in Wr. Neustadt, Bruck an der Mur und in Amstetten. Dort sind bis zu 90 Therapieeinheiten für ein ganzes Jahr möglich. Warum gerade in diesen Städten, nicht aber in Wien: Dieser Frage werde ich demnächst nachgehen!

30.5.

Statusbericht Donnerstag, Christi Himmelfahrt: Die Cafés des Rehabilitationszentrums sind voll mit Patienten und deren Besuchern - zumal es seit Tagen regnet. Das drückt die Stimmung, die Witze am Esstisch waren auch schon mal besser. Aber was soll man machen? Kaufmannsladen spielen wie Didi Hallervorden in seinem legendären Sketch, als er gemeinsam mit einem zweiten Komiker fadisierte Strafgefangene darstellte? Ich bekomme eine Flasche Pommes frites! Das würde während einer Stoffwechsel-Rehabilitation vielleicht zu Missverständnissen führen.

Allerdings  sind die Freiheiten, die man hier genießt schon bemerkenswert. Also bitte keine Sorge, dass jemand glauben könnte, Sie essen Pommes! Ab 16 Uhr darf man hier auch Alkohol trinken - und der liefert dem Körper unter anderem Fett. Das mag manch einem Patienten vielleicht merkwürdig erscheinen, wenn doch daneben Reduktionskost und Diabetes-Kost nach BE-Plan serviert wird. Aber die Zentrumsleitung sagt: Die Gäste sind erwachsene Menschen, sie müssen wissen, was sie tun.

Bei einigen Reha-Patienten war Verwunderung zu vernehmen, weil man erst ab 16 Uhr Alkohol bekommt.  Auch solche Nörgler muss es geben.

Natürlich hörte man in diesem Zusammenhang auch den ältesten aller Alkoholiker-Witze, sein Bart reicht schon bis zum Boden: Hast Du Probleme mit dem Alkohol? Nein, nur ohne ihn!

Gestern hatte ich Einzelberatung bei der Diätologin Christine Wiesinger. Natürlich hat sie mich abgeprüft. Wie viele Manner-Schnitten sind eine Broteinheit (BE)? Drei? Gewonnen! Und wie viele BE hat eine Semmel?  1,5 BE? Ganz weit daneben! Es sind drei BE! Mein Trost: ich essen fast nie Semmeln.

Frau Wiesinger macht übrigens eine großartige Arbeit. Und sie hat den nötigen Humor, um Reha-Patienten bei Laune zu halten. Welche Getränke sind unbedenklich bezüglich Broteinheiten? Auf ihre Frage hört sie sicher öfter “Bier” - sie lacht dazu - macht aber konsequent weiter mit ihrem Vortrag. Die Gäste und Patienten haben den größten Respekt vor ihr.

Irgendwann wird auch hier wieder die Sonne scheinen. Ich bin mir sicher. Vielleicht schon morgen.

03.06.

Das letzte Wochenende dieser “Reha” liegt hinter mir - endlich scheint die Sonne: Das Wetter lud zu Erkundungsspaziergängen in den Wald und zu der einen oder anderen kleinen Radtour. Vorbei an Einfamilienhäusern, wo lange nach dem Abendessen im Kurzentrum gegrillt, Fleisch und Würstel gegessen und Bier getrunken wurde.

Sie denken wahrscheinlich, dass ich schnuppernd wie ein fast verhungerter Hund durch Althofen streifte, um Aufnahme winselte und die Nächstenliebe der Kärntner mir entgegen schwappte wie reißendes Hochwasser über ein Bachufer tritt.

Nichts von alledem! Ich schnupperte nicht, ich winselte nicht, ich nahm es gelassen hin. dass Duftwolken von knackig Gebratenem um meine Nase waberten. Erstens kriegt man im Gesundheitszentrum wirklich reichlich zu essen, zweitens will ich meinen Kurerfolg - ein paar Kilogramm weniger und keine wirklich groben Zuckerhöhen oder -tiefen - nicht durch einen solchen Sündenfall gefährden. Ich aß ohnehin erst kürzlich ein kleines Stück Apfelstrudel, fühlte mich aber danach nicht schlecht und ging auch nicht beichten. Das war ja auch eine große Ausnahme, normalerweise bin ich mit mir so streng wie die Kellnerin im Speisesaal. Sie sagte gestern auf die Frage “Was gibt es heute?” wahrheitsgemäß “Petersfisch”. Auf die Nachfrage “Und sonst?” sagte sie wieder “Petersfisch” und auf die Frage “Und außerdem?” kam ein ungerührtes “Petersfisch”.

Bei so viel Auswahl tut man sich als Gast wirklich schwer. Ich habe also den “Petersfisch” genommen. Und weil ich dann doch eine nicht zu erklärende Unterzuckerung hatte, zwei Brote mit Aufstrich nachgelegt. Brot geht langsam ins Blut und hält den Zucker dafür länger oben, als es “schnelle” Kohlenhydrate tun (Traubenzucker, Saft).

Heute kommt es zur Pflegeentlassung und zur Schlussuntersuchung. Danach bin ich für Hydrojet eingeteilt: Das ist ein Highlight im Reha-Alltag. Man liegt auf einem Wasserbett, das immer an anderen Stellen sprudelt und dabei genau dort den Körper massiert. 

Unangenehmer kann man es kaum treffen.

 

05.06

In einem Kurzentrum wie jenem in Althofen sind die unterschiedlichsten Menschen zu Gast: Bauarbeiter, Hausfrauen, Pressesprecherinnen, Kassierinnen, Tischler, Key-Account-Manager aus Werbeagenturen, Bauern, pensionierte Lokführer, Technikerinnen und - natürlich - auch Journalisten. Im Laufe der drei Wochen einer Stoffwechsel-Rehabilitation lernt man ihre Eigenheiten kennen, wundert sich, freut sich, schaut weg oder denkt sich, was ein Tischnachbar neulich laut aussprach: “Gottes Tiergarten ist unendlich groß!” Sie leben in einer Blase? Egal. Alle Blasen, die man sich vorstellen kann, sind hier versammelt. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ein gesundheitliches Problem haben.

Hier der Versuch einer Typologie des Kur- oder Reha-Gastes, der Einfachheit halber wird auf Binnen-I verzichtet:

“Die Erfahrenen”: In Diät- oder Diabetes-Schulungen trumpfen sie gern mit ihren Erfahrungen von anderen Reha- und Krankenhaus-Aufenthalten auf. Dort war das Essen schlecht, die medizinische Betreuung großartig, aber die Betten zu kurz. Sie sind ein wandelnder Konsumenten-Test. Wer andere Erfahrungen gemacht hat, wird ausgefragt, sieht sich in einer heißen Diskussion über die Qualität des Berichts - und ernten letztlich ein mildes Lächeln. Du kannst reden, was Du willst, ich weiß es besser!

“Die Lustigen”: Sie lachen gern, was auch für die Tischnachbarn wichtig und gesundheitsfördernd ist. Da werden gute und schlechte Witze gemacht, da wird auf Witzen herumgeritten wie auf einem Rodeo-Pferd, bis mindestens ein Tischnachbar auch lacht. Einige von ihnen lachen aber so laut, dass man schon von markieren sprechen könnte. Ha, dort hab ich mich auch schon blendend unterhalten, habt Ihr eh alle gehört, oder?

“Die Raucher”: Müssen hier in vorgesehenen Raucherzonen ihrer Sucht frönen. Husten auch während des Essens nicht selten, sind lustige Gesellen, reagieren aber auf zugegeben langbärtige Witze wie “Du rauchst zu wenig” nicht immer positiv. Muss man auch verstehen.

“Die Schabenackis”: Haben allerlei gute, aber auch total schlechte Streiche im Kopf. Finden Sie nach einer frühen Therapie ihre Kaffeetasse voll mit Zucker, dann wissen Sie: Einer von diesen, ansonsten recht pflegeleichten Menschen, sitzt an Ihrem Tisch. Oder: Der nach Zimmernummer geschlichtete Therapieplan für den kommenden Tag wird versteckt. Total lustig, oder?

“Die Nervigen”: Versammeln sich schon vor 16 uhr im Untergeschoss, um den Therapieplan für den nächsten Tag zu bekommen, obwohl deutlich geschrieben steht: Bitte den Therapieplan nicht vor 16 uhr holen! Dann reißen sie ihn den Damen der Zentrumsverwaltung, die ihn fein säuberlich nach Zimmernummer einschlichten wollen, aus den Händen. Dann können sie sich einstimmen und jammern über die Taktung der Therapien.

“Die Ich-war-es-nicht-Sünder”: Nehmen brav ab, machen überall mit, aber schlagen ein- oder zweimal über die Strenge, wenn zum Beispiel der Tischnachbar einen Apfelstrudel serviert bekommt und freundlicherweise die Mitmenschen zum Mitnaschen einlädt. Wenn sie von der Kellnerin mit strengem Blick beäugt werden, deuten sie mampfend und kichernd auf den Verführer vis-a-vis.

“Die Eigentümlichen”: Treten in Schulungen gern mit die eigene Bedeutung unterstreichenden Meldungen in der Vordergrund: “Gemüse, ich? Ich esse nie Gemüse”. Oder total lustig: “Ich mache Gemüsediät, ich esse das Zeug nicht.” Manchmal machen sie damit auch eine Flanke auf, die eine Einladung für Retourkutschen ist. “Ich esse kein Gemüse, bin ja kein Rindvieh”. Da kam dann prompt zur Antwort: “Na ich weiß nicht, vielleicht doch!”

“Die Schmähführer”: Unterhalten die Tischnachbarn und sind auch gegenüber dem Personal im Gesundheitszentrum zu allerlei Scherzen aufgelegt. Helfen über Reha-Tiefs und Therapie-Hangover hinweg, sind nicht selten gesundheitlich ziemlich bedient, jammern aber nie.

“Die Suderanten”: Jammern über die Therapie A und die Therapie B, klagen über die Therapie C , sind aber schnell verstummt, wenn ihnen jemand Alternativen aufzeigt und sagt: “Ich geh jetzt zur Dialyse, mag jemand tauschen?”

 

“Die Fehlersucher”: Wissen genau, wann Ärzte und Ärztinnen sich irren, Fehler machen - und glauben, sich mit diesem nutzlosen Wissen über tatsächliche Kleinigkeiten Gehör bei anderen Patienten verschaffen zu müssen. Klingen dabei wie Whistle-Blower, die Skandale aufdecken. “Hast gesehen, sie hat sich vertratscht!” So was aber auch!

“Die Beobachter”: Glauben, dass sie in guter Position sind, werden aber selbst beobachtet und in obige Kategorien geschlichtet. Ihr Blogger gehört da gewiss dazu.

Heute ist mein letzter Tag - mit acht Programmpunkten. Zweimal Krafttraining, einmal Heilgymnastik, einmal Wandern. Da soll noch jemand sagen, dass ein Reha-Aufenthalt nicht Arbeit ist.

 

10.06.

Jetzt bin ich schon ein paar Tage wieder zurück im Alltag - und die Entspannung hält noch immer an. Wird wohl daran liegen: Ich esse regelmäßig, schlafe ausreichend, bewege mich, versuche fit zu bleiben, lasse mich noch durch nichts und niemanden ärgern. Das alles ist auch nicht wirklich schwer, wenn die Sonne scheint. Das Wetter lädt dazu ein, raus zu gehen, ruft unverkennbar nach mir: “Komm’ raus, Du fauler Sack und tu was für Dich!” Aber machen wir uns nichts vor: Es werden auch wieder andere Zeiten kommen. Trägheit, gepaart mit Faulheit, Müdigkeit und jeder Menge Ausreden, warum man gerade heute nicht mit dem Rad ins Büro fahren kann. In informierten Kreisen werden diese Launen der Willenskraft kurz “Schweinehund” genannt. Schon mal davon gehört, oder?

Da kann man noch so viele Schwüre abgelegt haben, noch so oft gemeint haben, Gewicht und Bewegungseifer unbedingt beibehalten zu wollen: Ab und zu muss das Tier raus, ab und zu darf es raus. Dann wird ein Bier getrunken, vielleicht auch zwei, ein Schnitzel verspeist  und zum Ausgleich werden die Füße hochgelagert. Schön dosiert, nicht zu häufig: Das hab ich mir im Humanomed Zentrum Althofen groß auf meine Speisen- und Getränke-Festplatte im Kopf geschrieben.

In Althofen sagt man zwar, es hängt nur von einem selbst ab, ob die Stoffwechsel-Rehabilitation erfolgreich ist, aber das ist natürlich pure Bescheidenheit:  Die Betreuung durch Ärztinnen und Ärzte, Schwestern, Diätologinnen, Diabetes-Beraterinnen, Physio- und andere -Therapeuten und -Therapeutinnen, muss man schon noch einmal extra hervorheben. Sie haben nicht nur in ihrem Fach, sondern auch im Zuhören und Schmähführen eine enorme Expertise, sie sind teils unerbittlich, aber auch Meister der Empathie. Schmähführen: Das konnten mit wenigen Ausnahmen auch meine Tischnachbarn ganz wunderbar. Ich stoß mit einem Glas Kursekt, also einem Glas Wasser, auf sie und auf die anderen Spezialistinnen von Althofen an. In diesem Sinn: Prosit! Auf die Gesundheit!