Wissenschaft: Ab wann ist ein Mensch zu dick?
(10. August 2020) - Ab wann ist ein Mensch zu dick? Das richtet sich vor allem nach der Gesundheit des Einzelnen – nicht nur nach Gewicht oder Body-Mass-Index, sagen nun kanadische Mediziner.
Das Schöne an Zahlen ist, dass sie beim Einteilen helfen. Im Fall von Körpergewicht hilft ein Blick auf den errechneten Body-Mass-Index – kurz BMI – bei der Einordnung, ab wann ein Mensch aus medizinischer Sicht als zu dünn, dick oder eben "normalgewichtig" anzusehen ist. Zumindest galt das bislang so. Nach Ansicht kanadischer Wissenschaftler ist das Konzept allerdings überholt. In einer überarbeiteten Richtlinie fordern sie: Übergewicht sollte nicht ausschließlich nach dem Gewicht beurteilt werden. Auch sollten Erfolge im Kampf gegen Übergewicht nicht allein mit der Anzahl der verlorenen Kilos gemessen werden. Stattdessen sollte die Gesundheit des Einzelnen im Fokus stehen.
Die Richtlinie wurde Anfang dieser Woche im "Canadian Medical Journal" veröffentlicht und widmet sich ausführlich der gewichtsbedingten Stigmatisierung von Patienten im Gesundheitssystem. Die Gesellschaft unterstelle übergewichtigen Menschen unter anderem mangelnde Willenskraft – auch Mediziner seien von diesen Annahmen nicht ausgenommen. Studien würden zeigen, dass viele Ärzte übergewichtige Menschen diskriminierten, sagte Studienautorin Ximena Ramos-Salas. Dies könnte zu einer schlechteren gesundheitlichen Versorgung bei diesen Patienten führen. Und zwar unabhängig vom Gewicht.
Kein Zwang zum Idealgewicht
Bei der Behandlung von Übergewicht sollte es "um eine Verbesserung der Gesundheit und des Wohlbefindens gehen und nicht nur um Gewichtsverlust", heißt es in der Richtlinie. Schon kleine Gewichtsveränderungen von etwa drei bis fünf Prozent könnten positive Effekte auf die Gesundheit haben.
Das "beste Gewicht" für eine übergewichtige Person müsse nicht zwangsläufig dem "Idealgewicht" laut BMI entsprechen. Das Erreichen eines idealen BMI könne mitunter "sehr schwierig" sein, betonen die Studienautoren. Langfristig sei ein Gewichtsverlust ohnehin oft kaum einzuhalten – dafür sorgt eine Art Kompensationsmechanismus des Gehirns, der das Hungergefühl steigert.
In der Richtlinie wird auch betont, wie komplex das Thema Übergewicht sei. Es handle sich um eine "chronische Krankheit", gegen die simple Ratschläge wie "weniger essen, mehr bewegen" oft nichts ausrichten würden. Die Behandlung soll stattdessen evidenzbasiert sein und könne verschiedenste Maßnahmen umfassen: Eine Ernährungstherapie zählt dazu, aber auch Sport, psychologische Unterstützung oder chirurgische Eingriffe.
Ganz von der Vorgabe des Gewichtsverlusts kann sich die überarbeitete Richtlinie jedoch nicht lösen. Das liegt auch daran, dass Untersuchungen zu dem Thema sich oft auf Gewichtsabnahme fokussieren. Die Autoren betonen jedoch, wie wichtig weitere Forschung sei, um den Fokus hin zu den Patienten und ihrer Gesundheit zu lenken.
"Alle Menschen, unabhängig von ihrer Körpergröße oder dem Körperbau, profitieren von einer gesunden, ausgewogenen Ernährung und regelmäßiger körperlicher Aktivität", heißt es in der Richtlinie.
BMI in der Kritik
Kritik am BMI, der sich aus der Körpergröße und dem Körpergewicht errechnet, gibt es bereits seit längerem. So berücksichtigt der Wert nicht, ob eine Person besonders sportlich ist und allein aufgrund der Muskelmasse mehr wiegt. Auch die Fettverteilung lässt er außen vor. Studien zeigen, dass Bauchfett schädlicher ist als Fett an der Hüfte. Im Idealfall sollte der BMI daher nur als Richtwert im Zusammenhang mit anderen Faktoren dienen. Über den Gesundheitszustand sagt er kaum etwas aus.
Quelle: Canadian Medical Journal / BBC