24/7 - 8760 Stunden pro Jahr – Warum Diabetes nervt…
Von Peter P. Hopfinger
Es ist schon eine fatale Beziehung. Der Diabetes, der in dein Leben einzieht, fordert von seinem Gastgeber volle Aufmerksamkeit, jeden Tag, 24 Stunden, 365 Tage im Jahr bis ans Lebensende. Amen. Dieser seltsamen Liaison etwas Positives abzugewinnen, bedarf einiger Hirnakrobatik. Aber es funktioniert. Lesen Sie weiter und ich zeige Ihnen, wie´s geht.
Man kann es ruhig zugeben. Bevor der Diabetes das eigene Leben maßgeblich zu beeinflussen beginnt, ist er etwa so interessant, wie ein Fahrrad, das in Peking umfällt. Gar nicht.
Aber dann ist er eines Tages da. Unübersehbar, nicht zu ignorieren, bedrohlich. Und sogar lebensbedrohlich. Für´s ganze restliche Leben. Amen.
Die gute Nachricht Anno 2020: die Zuckerkrankheit kann heute – knapp hundert Jahre nach der Entdeckung und erstmaligen Anwendung des Hormons Insulin ausgezeichnet und auch über Jahrzehnte kontrolliert werden. Ich bin Zeitzeuge dafür, denn mir fehlt – knapp 25 Jahre nach der Diagnose „insulinpflichtiger Diabetes“ - nach wie vor ausschließlich Insulin. Ich habe keinerlei Folgeerkrankungen oder sogenannte Spätschäden und bin daher überzeugt, dass heute jeder dieses durchaus erstrebenswerte Ziel erreichen kann.
Natürlich, es gibt heute viel mehr Medikamente und auch viel mehr verschiedene Insuline, als noch vor 25 Jahren, die Messgeräte sind nicht nur genauer, sondern auch wesentlich akkurater geworden, wenn man an das Flash Glucose Monitoring-System von Abbott oder die Continous Glucose Monitoring-Systeme von Roche, Menarini und anderen Anbietern denkt. Dazu kommen intelligente Pens und natürlich verschiedene Pumpensysteme, die insulinpflichtigen Patienten das Leben nicht nur erleichtern sollen, sondern das auch tatsächlich tun.
Trotzdem: es nervt, obwohl das Herumgewurschtel mit Stechhilfen, Streifen und ähnlichen Accessoires für viele längst Geschichte ist.
Mir kommt es manchmal so vor, als hätte sich der Diabetes und all mein Wissen über seine Randerscheinungen in irgendeinem Hinterstübchen meines Gehirns ein gemütliches Plätzchen eingerichtet. Von dort meldet er sich mit schöner Regelmäßigkeit. Zum ersten Mal in der Früh: vergiss nicht, deinen „Morgengupf“ zu spritzen! Und wenn wir schon dabei sein, auch gleich die Basis. Dann folgt die Erinnerung an die Morgen-Pillen und dann geht’s erst richtig los. Frühstück? Worauf hab ich Lust? Jetzt oder später? Während Frühstücks-Kollegen gemütlich in sich hineinmampfen, rechnet unsereiner im Kopf, wie und was sich alles ausgeht, damit nach zwei Stunden wieder das Ziel erreicht wird.
Aktuell erlebe ich eine Urlaubssituation auf der schönen kanarischen Vulkaninsel Teneriffa, die mich schon vor dem Abflug beschäftigte. Alle Medikamente und Reserve dabei? Alle Utensilien inklusive Reserven dabei? Gut verstaut im Handgepäck?
Und endlich angekommen: Essen gehen? Werte checken und BE berechnen, was bei den köstlichen kanarischen Kartoffelchen gar nicht so einfach ist.
Ausflüge machen? Habe ich eine Sport-BE dabei, genug gegessen, wenig genug Insulin in den Körper eingefüllt, um nicht in die Knie zu gehen und – halt! – meine Nadeln muss ich auch noch wechseln, bevor ich aus dem Haus gehe.
Nebenbei gilt es den Transmitter aufzuladen, die Kalibrierungen vorzunehmen und das Teil jeden Tag mindestens einmal richtig an den Oberarm zu kleben.
Gemütlich ist es auch, wenn um drei Uhr nachts die Miturlauber aufgebracht vor dem Bett stehen, weil sie ein Alarm der App aus dem Schlaf gerissen hat. Man brummelt halbschlafend eine Entschuldigung und stellt später fest, dass der Alarm eigentlich dem morgendlichen Abflug galt.
Ja, natürlich: es sind schon die eigenen Unzulänglichkeiten, die manchmal die eine oder andere mehr oder weniger prekäre Situation verursachen und zum Glück kann man sie oft genug mit einem „Pfeif drauf!“ beiseite wischen.
Ganz besonders nervig empfinde ich persönlich gut gemeinte Ratschläge von Außenstehenden, die nicht medizinisches Personal sind. Auch die noch so gut assoziierten und informierten Angehörigen und Freunde sind nun einmal nicht selbst betroffen und können sich in die Gefühlslage eines Menschen mit Diabetes nur sehr bedingt einfühlen. Fragen wie „Darfst Du das überhaupt essen?“ oder gar Feststellungen wie „Ich weiß genau, wie Du Dich fühlst“ lassen vermutlich nicht nur den Blutdruck, sondern stressbedingt auch den Blutzucker ansteigen.
Genug.
Trotz all dem bin ich froh, „nur“ Diabetes zu haben.
Schon viele Freunde, Verwandte und Kollegen haben zum Teil bereits vor Jahren die letzte Reise angetreten. Oft genug waren ungesunde Ernährung, kaum Bewegung und andere schädliche Verhaltensmuster zumindest beteiligt am vorzeitigen Ableben (etwa Herzinfarkt, Schlaganfall oder Krebs).
Ich habe im kommenden Jahr mein silbernes Jubiläum (25 Jahre) mit der Zuckerkrankheit und ich werde es feiern. Feiern, weil mich der Diabetes zu einem bewussteren Leben mit gesünderer Ernährung und mehr Bewegung gebracht hat. Feiern, weil ich eine ganze Menge spannender und interessanter Menschen wegen des Themas Diabetes kennenlernen durfte und so auch neue Freunde gefunden habe. Mein seit 25 Jahren veränderter Lebensstil und die Tatsache, dass der mich so nervende Umgang mit Diabetes mir vermutlich eine längere Lebenserwartung bei besserer Gesundheit beschert hat, macht das Nervende locker wieder wett. Genauso wie die Tatsache, dass mir nach zweieinhalb Jahrzehnten nur Insulin fehlt, aber ich keine Folgeerkrankungen habe.
Wie meinte die österreichische Diabetologin Prof. Dr. Julia Mader beim EASD in Barcelona?
„Mit ihrem Arzt besprechen Patienten ihren Diabetes maximal eine Stunde pro Jahr. Sie selbst müssen sich 8760 Stunden pro Jahr damit auseinandersetzen.“
Dem habe ich nichts hinzuzufügen.